Herzlos: Städte vertreiben Obdachlose
Er dreht sich eine Zigarette. Es ist das erste, wenn er morgens aus seinem Schlafsack kriecht - Frühstück sozusagen: Kalle lebt seit zwölf Jahren auf der Straße. Seine Platte: ein Geschäftseingang. Solange er den Eingangsbereich sauber hält, ist er von den Inhabern geduldet. Doch das ist selten geworden in Hamburg. Der öffentliche Raum wird für Arme und Obdachlose immer enger. Armut - die will niemand sehen.
Mülleimer werden so umgebaut, dass Flaschensammler keine Chance mehr haben, die Bänke in den Bushäuschen so gestaltet, dass "sie nicht zum Daueraufenthaltsort für sogenannte Randständige werden", wie die Hochbahn auf Anfrage eines Fahrgastes erklärte. "Das ist menschenentwürdigend in meinen Augen", findet Kalle. "Ich bin genauso Fahrgast. Ich habe sonst auch meine Karte gehabt. Da wurde ich auch aus dem Bahnhof verwiesen, weil ich nicht dementsprechend aussehe."
Am Hauptbahnhof ist Kalle nur noch selten. Früher hat er sich hier mit Freunden getroffen. Heute werden sie von den Sicherheitsbeamten der Deutschen Bahn sofort vertrieben. Seit die Stadt Hamburg im Oktober 2012 die überdachten Vorplätze für die kommenden zehn Jahre an die Bahn übergeben hat, wird durchgegriffen.
Vertreibung verfassungswidrig
Dr. Thomas Leske hält die Vertreibung für verfassungswidrig. Und deshalb trifft er sich jeden Donnerstag mit einigen anderen Hamburgern zu "Mahnwache(n) gegen Bahnwache", demonstriert damit gegen die Gebaren von Deutscher Bahn und Stadt. Und weiß sich durch einen ähnlichen Fall gestärkt: 2011 hat das Bundesverfassungsgericht ein klares Urteil gesprochen. Damals hatte der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport einer Frau, die im Flughafen Flyer verteilte, Hausverbot erteilt. Damit, so die Auffassung des Gerichts, habe die Fraport AG gegen das Grundrecht für Versammlungs- und Meinungsfreiheit verstoßen.
Denn auch privatrechtliche Unternehmen wie eben die Fraport AG seien, wenn sie mehrheitlich der öffentlichen Hand gehörten, an die Grundrechte gebunden. "Man konnte hier sitzen, stehen, liegen, hüpfen, lachen, weinen und eben auch rauchen und trinken", erzählt Leske. "Auf einmal soll das nicht mehr möglich sein, nur weil die Stadt diesen Vertrag gemacht hat. Die Grundrechte gelten ja nicht nur für uns, sondern eben auch für die, die hier vertrieben werden. Die sind unteilbar. Deren Grundrechte sind keine anderen als unsere."
Wenn Armut nicht auffällt, ist sie geduldet
In der Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie in Norderstedt treffen wir Rosi. Auch sie hat jahrelang auf der Straße gelebt. Erst seit kurzem hat sie endlich eine kleine Wohnung bekommen. Sie ist viel rumgekommen in deutschen Großstädten und hat überall Abweisung und Vertreibung erfahren. "Man darf in Deutschland auf offener Straße sterben, man darf es nur niemandem sagen", resümiert sie heute. Um in Ruhe gelassen zu werden, hat Rosi deshalb immer auf ihr Äußeres geachtet. Wenn Armut nicht auffällt, ist sie geduldet, so ihr bitteres Fazit.
Anders erging es einer alten Frau, die Rosi auf der Straße in Karlsruhe getroffen hat: "Da saß eine alte Frau, zerrissen, tagelang nicht gewaschen. Dann kommt eine junge Frau aus einer Bäckerei, gibt ihr einen Kaffee, eine Brezel und fünf Euro und hat gesagt: 'So, jetzt gehst Du aber weg!'"