Eine Stadt für alle: Altona baut barrierefrei
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." So steht es im Grundgesetz. Fakt ist aber: Unsere Städte sind ausgesprochen behindertenfeindlich gebaut, voller Barrieren zum Beispiel für Rollstuhlfahrer, Blinde oder alte Menschen. Das kritisiert auch Verena Bentele, die blinde Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung. Für sie ist Barrierefreiheit ein Thema, das uns früher oder später alle betreffen kann. Eine Stadt für alle - das ist das Ziel. Wie weit sind wir auf diesem Weg?
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums haben weniger als ein Viertel der Arztpraxen für Allgemeinmedizin einen rollstuhlgerechten Zugang oder einen Aufzug. Auf rund der Hälfte der Bahnhöfe können zum Beispiel Rollstuhlfahrer nicht ohne Hilfe einsteigen. Nur zehn Prozent der Restaurants, Cafes und Gaststätten sind barrierefrei. Das größte Problem: Laut dem Teilhabebericht der Bundesregierung fehlt es vor allem an barrierefreien Wohnungen. 75 Prozent der Wohnungen älterer Menschen haben Stufen im Eingangsbereich. Schon in drei Jahren werden rund drei Millionen zusätzliche Wohnungen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen gebraucht. Nach Schätzungen gibt es derzeit davon nur 700.000.
Bürgerinitiative setzte sich für Projekt ein
"Die Menschen müssen mehr im Blick haben, wie sich auch ihr eigenes Leben verändern kann und verändern wird. Sei es durch eine Erkrankung, durch einen Unfall oder, vor allem, durch Alter", sagt Bentele. Aber es gibt auch Signale der Hoffnung: In Hamburg-Altona entsteht gerade der erste, fast komplett barrierefreie Stadtteil Deutschlands, mit 3.500 Wohnungen. Und das war gar nicht schon immer so geplant, sondern ist einer sehr engagierten Bürgerinitiative zu verdanken. NDR Info hat sich die Baustelle angesehen.
Der blinde Björn Beilfuß steht auf der Baustelle, Kräne ragen in den Himmel, Bagger heben Baugruben aus, in einigen schon fast fertigen Rohbauten sind Bauarbeiter zugange. Hier wird in zwei Jahren sein neues Zuhause sein, im Wohnprojekt BliSS, das Blinde und Sehende gemeinsam gegründet haben. Auf sieben Stockwerken werden 22 Genossenschafts-Wohnungen entstehen, alle barrierefrei und auf die Bedürfnisse von blinden Menschen zugeschnitten. "In dem Gebäude wird es an den Treppengeländern Beschriftungen in Braille-Schrift geben, dann wird es in dem Aufzug eine akustische Ansage geben, bei den Treppen gibt es so kleine Stufenmarkierungen, sodass man weiß, wo die erste Stufe anfängt", erklärt Beilfuß.
Verkehrsleitsystem für Blinde
Auch außerhalb seiner Wohnung wird Beilfuß sich sicher fühlen können. In "Neue Mitte Altona" wird es ein Verkehrsleitsystem für Blinde geben, abgeflachte Bürgersteige, stufenlose Hauseingänge. Außerdem wird der Autoverkehr eingeschränkt und es gibt unterstützte Wohnangebote und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung. Zu verdanken ist die Ausrichtung des künftigen Stadtteils dem Forum "Eine Mitte für alle" - einem Zusammenschluss von Bürgern mit und ohne Behinderung, Stiftungen, Initiativen und kleinen Baugemeinschaften, wie BliSS. Die Stiftung Alsterdorf hat vor fünf Jahren das erste Treffen organsiert, erinnert sich Mitarbeiterin Agathe Bogacz. "Da kamen über 200 Leute und sagten: ja, das Thema interessiert uns. Da könnten wir uns vorstellen einen Beitrag zu leisten, um das mit zu entwickeln", sagt Bogacz.
Forum "Eine Mitte für alle" für Engagement ausgezeichnet
Bis heute trifft sich die Gruppe regelmäßig und hält ständigen Kontakt zu den Entscheidungsträgern in Politik und Behörden. Dafür mussten sie manchmal einen langen Atem haben. Für sein Engagement wurde das Forum "Eine Mitte für alle" 2015 mit einem Preis der Vereinten Nationen gewürdigt. Da hatte die Gruppe schon erreicht, dass ihre inklusiven Vorschläge in den städtebaulichen Vertrag übernommen wurden. Ein wichtiger Schritt, um auch die privaten Investoren zu Barrierefreiheit verpflichten zu können, sagt Birgit Ferber von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. So habe "Eine Mitte für alle" viel bewegt. "Die Menschen, die sich dort engagieren, waren einfach immer sehr klar in ihren Forderungen, sie haben sehr strikt und von Anfang an gesagt, das Projekt Mitte Altona soll inklusiv werden, und ohne diesen Druck wären wir nicht so weit", so Ferber.
"Ich habe den Stadtteil mitgeprägt"
Beilfuß und die anderen Vereinsmitglieder von BliSS haben die Stadt bei der Entwicklung des Blindenleitsystems beraten. Und ihre Vorschläge werden umgesetzt. Beste Voraussetzungen also, dass er sich wohlfühlen wird in seinem neuen Kiez. Auch wenn der jetzt noch eine Baustelle ist. "Den Eindruck habe ich schon, dass ich den Stadtteil mitgeprägt habe. Wenn dieser Gedanke der Inklusion nicht mit hineingekommen wäre, dann wäre das so, dass man diesen Stadtteil geplant hätte, einfach für Leute, die hier her ziehen, aber nicht diesen Gedanken gehabt hätte, auch viele Menschen zu vereinen."