Überlastete Kinderkliniken: Eltern in Todesangst

Stand: 03.08.2023 06:00 Uhr

Viele deutsche Kinderkliniken sind überlastet - mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen für kranke Kinder. Selbst in schweren Fällen müssen sie und ihre Eltern mitunter um einen freien Behandlungsplatz bangen.

von Brid Roesner, Isabel Ströh, Isabel Lerch

"Der Morgen startete eigentlich so wie immer", erzählt Nadine Michaelis. "Ich bin nach oben gegangen und habe alle meine Kinder geweckt." Als sie wenig später das Frühstück vorbereitet, beginnt ihre zehnjährige Tochter Eva zu schreien: "Mama, komm ganz schnell nach oben. Ich habe solche Kopfschmerzen, mir platzt der Kopf." Michaelis läuft die Holztreppe hoch in das Obergeschoss ihres Hauses. Eva sitzt vor der Toilette, hält sich den Nacken und muss sich immer wieder übergeben. "Im ersten Moment habe ich gedacht, vielleicht hat sie einen Migräneanfall." Sie legt ihre Tochter ins Bett, aber Evas Zustand verschlechtert sich immer weiter. Am frühen Nachmittag ruft die Mutter den Rettungswagen. 

Nadine Michaelis. © Screenshot
Bangte voller Verzweiflung um die Versorgung und das Leben ihrer Tochter: Nadine Michaelis.

Was zunächst nach einer Meningitis - einer Hirnhautentzündung - aussieht, stellt sich später in der Kinderklinik Wilhelmshaven als Hirnblutung heraus. "Das kann in einen lebensbedrohlichen Zustand münden und uns war einfach klar, das Kind muss wirklich eilig verlegt werden", erzählt der Chefarzt der Kindermedizin, Egbert Meyer. Eva braucht eine OP, die den Druck von ihrem Hirn nimmt - und damit auch ein Kinderintensivbett. "Solche Versorgungen müssen in Kliniken betreut werden, die eine Neurochirurgie haben und die dann auch möglichst spezialisiert ist auf Kinder", sagt Meyer. "Man hat natürlich in dem Moment einfach nur Todesangst um sein Kind", erinnert sich Michaelis.

Dramatische Lage im Dezember 2022

Doch es ist Anfang Dezember und die Kinderkliniken sind völlig überfüllt. Das RS-Virus macht vor allem Kleinkinder und Babys schwer krank. Kindermediziner überall im Land schlagen Alarm: Es gibt kaum noch freie Betten.

Florian Hoffmann © NDR
Die Bettenzahl der Kinderkliniken wurde heruntergefahren, sagt der Arzt Florian Hoffmann von der Uniklinik München.

"Die Situation entsteht dadurch, dass wir in der Kindermedizin von der Bettenkapazität insgesamt ganz nach unten gefahren sind und (…) so ein System eben einfach nicht darauf vorbereitet ist, dass dann urplötzlich in kurzer Zeit eine hohe Anzahl an Patienten kommt, die alle medizinische Hilfe brauchen", sagt Florian Hoffmann. Der Oberarzt leitet die Kindernotfallmedizin des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der Uniklinik München. Im Sommer sei es zwar entspannter als im Winter, aber leer sei seine Intensivstation auch dann nicht. "Da ist es nicht so, dass sich die Kinder überall stapeln, aber es ist trotzdem so eng in den Kliniken, dass wir die Kinder nicht immer da unterkriegen, wo wir sie haben wollen." Und so verbringen viele Mediziner ihre Zeit auf der Suche nach freien Betten am Telefon.

Auch Chefarzt Meyer aus Wilhelmshaven muss im Dezember mehrere Stunden telefonieren, bis klar ist, wo Eva notfallmäßig versorgt werden kann. Danach braucht sie zeitnah eine weitere Operation in einer Spezialklinik. Doch ihre Verlegung verzögert sich, weil kein Kinderintensivbett frei ist. Es ist eine Situation, die Eltern wie die von Eva verzweifeln lässt und Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte immer wieder an den Rand der Belastbarkeit bringt. 

Überschreiten von Belastungsgrenzen - für viele Alltag

Das zeigt auch eine Umfrage, die der NDR gemeinsam mit dem Hartmannbund, einem Berufsverband für Ärztinnen und Ärzte, durchgeführt hat: 34 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen demnach mehrmals pro Woche über ihre persönliche Belastungsgrenze hinaus. Weitere 41 Prozent tun dies mehrmals im Monat.

Zudem sagen fast zwei Drittel der Teilnehmer, dass sich ihre persönlichen Arbeitsbedingungen in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert haben.

An der nicht repräsentativen Umfrage haben insgesamt 630 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte aus Kinderkliniken teilgenommen. Vergleichbare Umfragen, die sich ausschließlich mit der Pädiatrie befassen, gibt es bislang kaum.

Überlastung gefährdet Patienten

Die Belastung des Personals hat offenbar auch Auswirkungen für die Patienten: Rund 40 Prozent der Teilnehmer geben an, dass es aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in Kinderkliniken schon einmal zu einer Patientengefährdung gekommen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Umfrageteilnehmer in einer kleinen, mittelgroßen oder einer Universitätsklinik arbeiten.

Florian Hoffmann, der Oberarzt von der Uniklinik München, engagiert sich politisch in der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Er befürchtet, dass zukünftig nicht nur Pflegefachkräfte, sondern auch Ärzte in der Kindermedizin fehlen werden. Strukturen müssten sich grundlegend ändern, sagt er: Pflegekräfte müssten besser bezahlt, die Kliniken stärker untereinander vernetzt und flexiblere Arbeitsmodelle eingeführt werden. "Ich würde mir wünschen, dass wir das Personal saisonal gedacht einsetzen. Das heißt also zum Beispiel im Sommer weniger arbeiten, im Winter mehr", sagt Hoffmann.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). © dpa Foto: Jörg Carstensen
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach räumt die Unterfinanzierung ein und will Sonderzahlungen ermöglichen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bestätigt gegenüber Panorama, dass die Kindermedizin chronisch unterfinanziert sei. Im Rahmen der Krankenhausreform soll die Kindermedizin zukünftig Sonderzuschläge erhalten. Wie hoch diese sein werden, ist jedoch noch unklar.

Auf Nachfrage von Panorama kritisiert der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die Krankenhausreform dürfe nicht zu Lasten der Beitragszahlenden gehen, die bereits jetzt den Löwenanteil der Krankenhausfinanzierung stemmten.

Bei Eva ist es gut gegangen

Eva geht es heute wieder gut. Das ist auch dem hohen Engagement der Ärzte und Pflegekräfte zu verdanken. "Alle haben dazu beigetragen, dass Eva wirklich eine zweite Chance gekriegt hat", betont ihre Mutter Nadine. "Aber man hat natürlich schon gemerkt, dass sie vom Personal am Limit sind." Sie fordert, dass sich endlich etwas ändern muss - zum Wohl der Mitarbeitenden und der kranken Kinder.

Der Panorama-Film "Notfall Kinderklinik" ist ab sofort in der ARD-Mediathek zu sehen und am Donnerstag, 3. August um 21:45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm:

Panorama | 03.08.2023 | 21:45 Uhr

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