Wa(h)re Verbrechen: Der True-Crime-Boom
"Irgendwann wird das Interesse nachlassen, aber das sehe ich momentan noch nicht", sagt Giuseppe Di Grazia. Sein Heft "Stern Crime" war vor vier Jahren das erste am Kiosk, das Geschichten über wahre Verbrechen als Freizeitlektüre anbot. Gleichzeitig gingen Fernsehen und Podcast mit True-Crime-Formaten durch die Decke. Inzwischen hat Di Grazia jede Menge Konkurrenz, zahllose Formate beleuchten jeden Aspekt des Verbrechens: Den Mörder. Das Opfer. Die Ermittlungen. Die Rechtsprechung. Gelöste Fälle. Ungelöste Fälle. Das Böse gleich nebenan genauso wie spektakuläre Fälle von der anderen Seite der Welt.
Mord und Totschlag: An Frauen, für Frauen
"Nehmen sie alles das, was sie an einem Krimi fasziniert, als Buch oder im Fernsehen. Und dann stellen sie sich vor: Das hat wirklich stattgefunden. Den Mörder hat es wirklich gegeben - die Frau ist wirklich in diese Situation hineingekommen. Das macht das Ganze nochmal reizvoller, das lässt einen noch mehr erschaudern, noch mehr mitzittern", sagt Giuseppe Di Grazia. True Crime fasziniert vor allem Frauen: Mit 81% Leserinnen ist "Stern Crime" schon fast ein Frauenmagazin. Weil sie Angst haben, selbst Opfer zu werden?
"Hinter jeder guten Kriminalgeschichte steckt ein Rätsel"
Sabine Rückert glaubt das nicht. Sie war eine der ersten, die bei der "Zeit" seitenlang über Verbrechen berichten durften, als es bei den Kollegen noch als anrüchig galt. Inzwischen macht sie für die Zeit ein eigenes True-Crime-Heft. Und den beliebtesten deutschen True-Crime-Podcast: "Verbrechen". "Ich glaube nicht, dass Angst der Grund ist, warum Frauen sich den Kriminalpodcast anhören," sagt Rückert. "Wenn man sich fürchtet, hört man sich sowas nicht an. Dann verdrängt man das. Frauen interessieren sich mehr für die Psychologie. Dafür, was dahintersteckt. Deswegen, glaube ich, hören mehr Frauen zu. Hinter jeder guten Kriminalgeschichte steckt ein Rätsel. Und das ist, glaube ich, das Interessante. Die Frage: Ist das, was ich sehe, wirklich die Wahrheit? Das ist diese Doppeldeutigkeit, diese Doppelgründigkeit der menschlichen Existenz."
True-Crime-Konsum kann verzerrte Wahrnehmung der Realität fördern
Aus Umfragen wissen die "Stern Crime"-Macher, dass die Leser am liebsten Serienmörder und Beziehungstaten wollen. Giuseppe Di Grazia schickt seine Autoren dafür in alle Welt. Damit sie über Frauenmörder in Alaska oder Serientäter aus Mazedonien berichten. Besonders spektakuläre Gewalttaten werden oft von mehreren True-Crime-Formaten aufgegriffen. Das könnte dazu beitragen, dass die Kriminalitätsfurcht steigt, warnt Prof. Bernd-Rüdeger Sonnen, Rechtswissenschaftler von der Uni Hamburg. Untersuchungen zeigen, dass viele Menschen davon ausgehen, dass die Mordrate steigt. Das stimmt jedoch nicht. Die Zahl der Straftaten insgesamt ist so niedrig wie seit Jahren nicht - trotzdem fürchten sich viele. Daran haben auch Politiker und Medien eine Mitschuld, kommentiert Alicia Lindhoff in der "Frankfurter Rundschau".
Journalisten sind in der Pflicht, richtig einzuordnen
Sabine Rückert sieht auch die Macher der True-Crime-Formate hier in der Pflicht: "Wenn man große Schlagzeilen macht und sagt: 'Passt bloß auf, hinterm Busch: Tausende von Vergewaltigern!' und dann nicht schreibt, dass die Rate der Sexualstraftaten rapide sinkt", dann vermittle man einen falschen Eindruck. Die Möglichkeit des verzerrenden Eindrucks ist natürlich stark, da da "jeder Sexualstraftäter fünfmal in jeder Zeitung steht - dadurch kommt natürlich ein unglaubliches Echo zustande".
True-Crime-Erfolg nur in einer "gemütlichen Gesellschaft" möglich?
Ein ungelöstes Rätsel ist für die Macher bisher noch ihr eigener Erfolg. "Ich mache das jetzt seit vier Jahren und kann noch nicht die definitve Antwort geben", sagt Giuseppe Di Grazia. "Ich glaube, dass die Menschen sich grundsätzlich für solche Geschichten interessieren, sich gruseln und mit ihrer Angst auseinandersetzen wollen. Auch Furcht, Selbstfurcht haben wollen." Für Sabine Rückert ist klar, der Erfolg hat auch etwas damit zu tun, dass wir in einer eher gemütlichen Gesellschaft leben: "Ich glaube, in Syrien oder in Russland würden die True-Crime-Geschichten nur halb so gut ankommen. Weil die Leute selbst genug Erfahrungen auf diesem Gebiet machen. Insofern ist es natürlich eine Sublimierung, die wir erleben, die wir uns leisten können, weil es uns so gut geht."