Strittig: Vernehmungsvideos im Mordfall Lübcke veröffentlicht
Stephan Ernst, der Hauptangeklagte im Prozess um den Mord an Walter Lübcke, hat seine Tat heute, am 5. August, vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gestanden. Bis zu seinem Geständnis vor Gericht hatte er nur gegenüber den Ermittlern ausgesagt. Videoausschnitte von diesen Vernehmungen wurden am 28. Juli von STRG_F veröffentlicht, dem jungen Investigativ-Format des NDR.
In dem Video ist u.a. zu sehen, wie der rechtsextreme Ernst im Juni 2019 seine Tat gesteht. Er bricht teilweise in Tränen aus, wenn er über seine Radikalisierung spricht, kommt ins Stocken, stellt sogar nach, wie er Walter Lübcke erschossen hat. Auch Ausschnitte aus weiteren Vernehmungen werden gezeigt, in denen Ernst sein erstes Geständnis revidiert. Es ist wohl das erste Mal, dass eine breite Öffentlichkeit in Deutschland per Video einen so unmittelbaren Einblick in die Ermittlungen eines politischen Mordes bekommt.
Veröffentlichung presseethisch vertretbar?
Doch die Veröffentlichung dieses Materials durch STRG_F stößt auf heftige Kritik. Sowohl der Anwalt des Angeklagten als auch die Familie des Opfers stoßen sich an dem Beitrag. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier schrieb auf Twitter, er fände den Film "abstoßend und verantwortungslos", der ehemalige Richter und "Spiegel"-Kolumnist Thomas Fischer erkennt darin gar eine "abstoßende Geilheit auf fremde Intimität". Seitdem steht die Frage im Raum: Darf STRG_F diese Bilder zeigen?
Juristisch erscheint die Lage klar: Strafbar macht sich laut § 353d StGb, wer eine "eine Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens (...) öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind". Da die Videos bereits zuvor in der Gerichtsverhandlung gezeigt wurden, verstößt der STRG_F-Film nicht gegen diesen Paragraphen. Der Redaktionsleiter von STRG_F, Dietmar Schiffermüller, verteidigt die Veröffentlichung gegenüber ZAPP: "Ein Strafverfahren ist nicht nur dafür da, juristisch die Schuld festzustellen, sondern es ist auch dafür da, eine Tat zu erhellen und der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, zu reflektieren: Was ist da passiert?"
Darf man einem Neonazi so eine Bühne bieten?
Die Diskussion dreht sich vor allem um ethische Fragen: Darf man einem Neonazi so eine Bühne bieten? Auf der er sich und seine Tatmotive so inszenieren kann? Die STRG_F-Reporter Nino Seidel und Julian Feldmann sprechen dieses Problem in dem Film selbst offen an. Der Fall erinnert an den Prozess gegen den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik. Dieser nutzte seinen Auftritt vor Gericht, um vor laufenden Kameras den Hitlergruß zu zeigen. Die Richterin entschied daraufhin, dass Breivik nicht mehr im Bild zu sehen sei.
Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung" war 2012 in Oslo dabei. Auch den Prozess gegen Stephan Ernst verfolgt sie. Sie kann das Bedürfnis verstehen, die faszinierenden Bilder von seiner Vernehmung zu zeigen. Aber im Interview mit ZAPP äußert sie Bedenken: "Ich glaube, man macht damit eine Tür auf zu einem ziemlich dunklen Weg, dass alles noch emotionaler wird. Und diese Emotionen in den Gerichtssaal schwappen und dann wirklich einen Prozess erschweren."
Befangenheitsantrag gegen vorsitzenden Richter
Tatsächlich könnte die Veröffentlichung des Vernehmungsvideos auch den Prozess gegen Stephan Ernst beeinflussen: Heute wurde zu Verhandlungsbeginn 20 Minuten lang im Gerichtssaal über das Video diskutiert. Der Anwalt des Mitangeklagten Markus H. hat wegen des Videos nun einen Befangenheitsantrag gegen den vorsitzenden Richter gestellt.
Hinweis der Redaktion: Die Reporter des STRG_F- Beitrags arbeiten im selben Haus und manchmal auch als Autoren für ZAPP