Russische Propaganda mithilfe deutscher Kommentarspalten
Meinungen aus den Kommentarspalten deutscher Medien landen auf russischen Websites - und werden dort für Propagandazwecke verwendet.
Russische Medien nutzen Leserkommentare westeuropäischer Medien für eigene Berichte über eine angebliche Zustimmung zur Politik Moskaus. Das hat eine Forschungsgruppe der Universität Cardiff anhand von Beispielen aus 32 Medienhäusern in 16 Ländern dokumentiert, darunter auch die deutschen Medien "SPIEGEL" und "WELT". Kommentare unter Artikeln mit Russland-Bezug dieser Medien wurden von russischen Websites als eine Art "Meinungsbild" der jeweiligen westlichen Bevölkerung zitiert.
Kommentare für ein pro-russisches Narrativ
Für Deutschland haben die Forschenden russischsprachige Artikel gefunden, die sich auf die Meinungen der "Leser des SPIEGEL" oder "Leser der WELT" beziehen - mit eindeutigen Überschriften wie "Die Deutschen sagten, wer an der Eskalation des Konflikts im Donbass eigentlich schuld ist" oder "Leser deutscher Medien nannten den Westen einen eindeutigen Aggressor in den Beziehungen zu Russland" (übersetzt mit Google Translate). Demnach werden vor allem pro-russische Leserkommentare auf den Websites europäischer Medienhäuser von russischen Medien als "Lesermeinung" zitiert und genutzt, um daraus ein pro-russisches Narrativ zu bauen oder der Bevölkerung eines bestimmten Landes, zum Beispiel Deutschland, eine russlandfreundliche Haltung zu unterstellen. Die Studie geht davon aus, dass viele dieser russischsprachigen Websites mit der so genannten russischen "Trollfabrik", der Internet Research Agency, in Zusammenhang stehen.
Ein Beispiel der Forschungsgruppe zeigt, wie zwei russlandfreundliche Kommentare, die ZAPP mit eigener Recherche einem Artikel der "WELT" zuordnen konnte, einige Tage nach der Veröffentlichung von mehreren russischen Medien aufgegriffen wurden (siehe Grafik). Der originale "WELT"-Artikel hat laut eigener Kommentarspalte aktuell 408 Kommentare. Die russischsprachigen Websites zitieren oft nur einen oder zwei davon für ihr Meinungsbild - mit eindeutigem Inhalt.
ZAPP konnte weitere Beispiele von russischen Websites identifizieren, in denen aus den Kommentarspalten des "SPIEGEL" zitiert wurde – teilweise mit Angabe des Namens des Originalkommentators, teilweise anonymisiert. Beispiele, die ZAPP selbst nachrecherchierte, belegen, dass es dabei um Texte geht, die Themen wie den Ukraine-Konflikt, die NATO oder auch Nord Stream 2 behandeln. Laut Studie der Universität Cardiff richten sich die Einflussnahmen vor allem an ein russischsprachiges Publikum.
Manipulation Tropfen für Tropfen
Martin Innes, der die Studie mit verantwortet hat, sieht dahinter einen Versuch der langsamen, subtilen Manipulation: "Es geht nicht unbedingt darum, das Wahlverhalten der Menschen bei einer bestimmten Wahl zu ändern, sondern eher um eine langfristige Förderung der Interessen und des Ansehens Russlands im Allgemeinen, fast wie eine Art 'Tropf-Effekt', der sich im Laufe der Zeit auswirkt und nicht nur von kurzer Dauer ist."
Und es ist offenbar einfach, Kommentare mit der gewünschten pro-russischen Haltung gezielt in den Kommentarspalten der europäischen Medienhäuser zu platzieren: Während es mittlerweile bei den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter ein Bewusstsein für diese Probleme gebe, seien viele Kommentarspalten traditioneller Medien nur wenig geschützt, mahnt der Studienautor. "Bei vielen Plattformen gibt es keine Identitätsprüfung, man kann sich mit einem GMail-Konto anmelden. Wir haben es ein paar Mal versucht und uns innerhalb von drei Minuten angemeldet, ein Konto erstellt und etwas Provokantes gepostet." Die "WELT" entgegnete auf ZAPP-Anfrage, dass die "Nutzung der Kommentarfunktion seit November 2020 nur für Abonnenten von WELTplus möglich ist". Der "SPIEGEL" wollte sich auf ZAPP-Anfrage nicht zu der Studie äußern.
Ursprung der Kommentare ungewiss
Zum Ursprung der Kommentare liefert die Studie Vermutungen: So zeigen die Forschenden anhand von anderen europäischen Beispielen, dass manche Kommentatorinnen bzw. Kommentatoren mehrfach den Namen oder auch den Standort wechselten. Ein ausgewählter Account änderte laut Studie beispielsweise 549 Mal den Namen. Auch seien pro-russische Kommentare teilweise auffallend hoch bewertet in den Kommentarspalten – ein Hinweis darauf, dass hier koordiniert gehandelt wurde. Darüber hinaus sei es auffällig, dass manche der Kommentatoren sich nicht dagegen wehrten, wenn sie von anderen Nutzern und Nutzerinnen als "russische Trolle" bezeichnet wurden. Studienautor Innes: "Wir sagen nicht, dass all diese Kommentare künstlich sind oder der Manipulation dienen. Aber wir konnten einige Signale finden, die nahelegen, dass es unübliches Verhalten gab, das man nicht mit normalen NutzerInnen assoziieren würde."
Einige der auf russischen Websites zitierten Kommentatorinnen bzw. Kommentatoren, die ZAPP selbst nachrecherchiert hat, entsprechen jedoch nicht dieser Lesart: Sie interagieren durchaus mit anderen Nutzerinnen und Nutzern – es ist also nicht auszuschließen, dass darunter auch echte Kommentatoren sind, die zu bestimmten Themen eine pro-russische Haltung haben.
Medien in der Verantwortung
Die Studie sieht nun auch die Medien in der Verantwortung – die Autorinnen und Autoren schreiben beispielsweise: "Westliche Medien werden zu glaubwürdigen Botschaftern für die Verteilung von Desinformationen gemacht." Im Interview mit ZAPP wird Martin Innes noch deutlicher: "Sie sollten darüber nachdenken: In welchem Ausmaß glauben wir, dass unser System manipuliert wird? Welche Art von Gegenmaßnahmen könnten wir ergreifen?"
ZAPP hat sich mit den Ergebnissen der Studie sowohl an den "SPIEGEL" als auch an den Axel Springer Verlag gewandt. Der "SPIEGEL" antwortete, man setze sich mit der Studie auseinander, möchte sich aber aktuell nicht äußern. Der Axel Springer Verlag weist den Vorwurf zurück, dass man sich auf diese Art und Weise instrumentalisieren lasse.