Erdogan-Gedicht: Chronik eines Skandals
Mit einer Schmähkritik forderte Jan Böhmermann am 31. März den türkischen Präsidenten Erdogan heraus, der zuvor vergeblich wegen der extra-3-Satire "Erdowie, Erdowo, Erdogan" den deutschen Botschafter in der Türkei einbestellen ließ. Doch die im "Neo Magazin Royale" vorgetragene Provokation, die zugleich als Erklärung und Test der im Grundgesetz (Artikel 5) verankerten Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit angelegt ist, gerät zur Staatsaffäre. Wie dem Zauberlehrling in der gleichnamigen Ballade von Goethe entgleitet dem Moderator nach und nach die Situation.
Löschung, Vorverurteilung, Aufschrei
Erst entschließt sich das ZDF, den Beitrag ("... entspricht nicht unseren Qualitätsvorstellungen") aus dem Netz zu entfernen, was Böhmermann bereits in der Sendung mutmaßte. Soweit, so kalkulierbar. Doch dann gibt's auch von der Bundesregierung keine Rückendeckung, die zuvor - zwar nach einigen Tagen Verzögerung, aber immerhin - noch den extra-3-Beitrag verteidigte. Kanzleramtssprecher Peter Altmaier, der von Böhmermann laut "Spiegel Online" um Hilfe gebeten wurde, meldet sich nicht mehr. Schlimmer noch: Bundeskanzlerin Angela Merkel distanziert sich in einem Telefonat mit der türkischen Regierung von dem Beitrag: "Die Bundeskanzlerin und der (türkische; Anm.d.Red.) Ministerpräsident stimmen überein, dass es sich dabei um einen bewusst verletzenden Text handele", so Regierungssprecher Steffen Seibert. Ein Aufschrei geht aufgrund der Vorverurteilung der Kanzlerin durch die Medienlandschaft.
Erdogan macht juristisch mobil
Doch Merkels vielleicht in guter Absicht gemachten Bemerkungen nützen nichts, es kommt noch schlimmer: Erdogan lässt einen Antrag auf Strafverfolgung nach Paragraf 103 Strafgesetzbuch (Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes durch einen deutschen Staatsbürger) stellen, dem die deutsche Regierung erst zustimmen muss. Ob sie das tut und wer dafür überhaupt zuständig ist, darüber wurde sich bei der Bundespressekonferenz am Montag wortreich ausgeschwiegen. (Update: Dem Antrag wurde inzwischen stattgegeben, Details am Seitenende). Am Montagabend wird zudem bekannt, dass Erdogan auch nach Paragraf 185 StGB klagt - der Straftatbestand der Beleidigung, den jeder geltend machen kann. Eine Zustimmung der Bundesregierung ist dabei nicht nötig.
Böhmermann unter Polizeischutz
Am Dienstag versucht die Bundeskanzlerin auf Facebook den Vorwurf aus dem Weg zu räumen, sie würde die deutschen Grundrechte opfern, um den Flüchtlings-Deal mit der Türkei nicht zu gefährden. Dem sei nicht so. Kurze Zeit später teilt das "Neo Magazin Royale" mit, dass die kommende Sendung aufgrund der derzeitigen Lage ausfällt. Böhmermann, der mit einer solchen Eskalation nicht gerechnet haben dürfte, ist derweil auf Tauchstation gegangen und steht unter Polizeischutz. Da viele Türken und Deutsch-Türken sich durch das Schmäh-Gedicht angegriffen fühlen, fürchtet man Übergriffe. Am Wochenende war er bereits nicht zur Grimme-Preis-Verleihung erschienen, wo er in Abwesenheit ausgezeichnet wurde. Seine Absage erfolgte bei Facebook: "Ich fühle mich erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe."
Gerichte müssen entscheiden
Ob mit oder ohne Erlaubnis der Bundesregierung: Am Ende werden wohl Gerichte klären müssen, ob die üblen Beleidigungen, die zuvor und danach als strafbare Schmähkritik von Böhmermann an- und abmoderiert wurden, in ihrem Gesamtkontext als Satire zu bewerten sind. Auch wenn anscheinend die meisten Juristen wie der Medienrechtler Bernhard Pörksen hinter Böhmermann stehen, es gibt auch Experten wie den Strafrechtler Reinhard Merkel, die eine Grenze überschritten sehen. Auch in der Medienlandschaft und unter den Künstlern stehen die meisten anscheinend hinter Böhmermann - obwohl viele dessen Werk nicht toll finden, so wie Serdar Somuncu. Der Kabarettist forderte am Sonntag bei Anne Will ("Streit um Erdogan-Kritik - Kuscht die Bundesregierung vor der Türkei?"): "Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich hinter ihren Künstler stellt und sagt, wir haben in Deutschland ein Recht auf Meinungs-, Presse- und Satirefreiheit."
Update, 15.04., 13.15 Uhr:
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat soeben erklärt, dass dem Antrag auf Strafverfolgung nach §103 StGB stattgeben wurde. Der Weg der Rechtsstaatlichkeit solle eingehalten werden, Richter hätten zu entscheiden, nicht die Regierung. Allerdings solle der §103 StGB (Beleidigung eines ausländischen Staatsorgans) abgeschafft werden.
Update, 04.10., 16.30 Uhr:
Die Staatsanwaltschaft Mainz hat bekannt gegeben, dass sie die Ermittlungen nach §103 StGB im Fall Böhmermann eingestellt hat: "Nach dem Ergebnis der Ermittlungen waren strafbare Handlungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen." Die Ermittler sehen das Werk von der Kunstfreiheit gedeckt. Offen ist hingegen noch die zivilrechtliche Klage Erdogans, die im November verhandelt wird.