Zeitreise: Ein Stück Weltgeschichte im Kieler Hafen
Es war eine ungewöhnliche Begegnung im Juli 1955, als zahlreiche Schiffe der Sowjetunion und der USA in den Kieler Hafen einliefen.
Von Karl Dahmen
Im Juli 1955 sausten mehr als ein Dutzend Schiffe über die westliche Ostsee Richtung Kiel. An ihrem Heck flatterte die Fahne der Sowjetunion. Es waren vor allem Torpedoboote, die vor zehn Jahren gegen das Deutsche Reich gekämpft und dabei geholfen hatten, dass das Nazi-Regime kapitulieren musste. Aber warum steuern die Boote im Sommer 1955 wieder die Kieler Bucht an und warum werden sie von amerikanischen Truppen im Hafen bereits erwartet?
Der Marinehistoriker Jan Schlürmann meint, das Einlaufen der Schiffe und die Begegnung von Vertretern der Kriegsmarine der USA und der Sowjetunion ist ein Stück Weltgeschichte, das sich in Kiel abgespielt hat. Sie gehören zu einem heute weitgehend unbekannten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Ohne dieses Ereignis hätte die Sowjetunion den Krieg gegen Deutschland vielleicht sogar verloren. Zumindest hätte sie viel länger gebraucht, die Nazi-Armee zu besiegen.
Roosevelt "verleiht" Schiffe und Flugzeuge
Bei den Schiffen handelte es sich um die Rückgabe von geliehenen amerikanischen Schiffen. Zeichen eines gewaltigen Deals, den sich der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt ausgedacht hatte. Er wollte bereits ab 1941 die Gegner Hitlers unterstützen - vor allem die Briten und die Sowjetunion. Ihm war klar, nur so konnte ein Sieg Deutschlands verhindert werden. Denn die Sowjets hatten nicht genug Waffen, Transportmöglichkeiten und Treibstoff, um den Streitkräften des Dritten Reiches Paroli zu bieten. Roosevelt hätte den Sowjets am liebsten die Waffen geschenkt oder sie ihnen verkauft, das aber war durch ein amerikanisches Gesetz unmöglich. Deshalb entwarf er den "Leih - und Pachtvertrag". Mit seiner Hilfe verlieh und verpachtete er den Sowjets das erforderliche Material.
In der Zeit bis zum Ende des Krieges brachten amerikanische Schiffe nun gigantische Mengen an Lieferungen in die Sowjetunion. Dazu gehörten vier Millionen Tonnen Lebensmittel, 200.000 Lastwagen, 77.000 Jeeps, fast 15.000 Flugzeuge und auch 197 Torpedoboote. Stalin brachte später einen Toast aus "auf die amerikanische Autoindustrie und die amerikanische Ölindustrie".
Rückgabe an die US Marine
1955 wurde in Kiel ein Teil dieser Lieferungen zurückgegeben. Die Sowjets hatten die Boote sogar neu angemalt und die alte amerikanische Kennung wieder angebracht. Aber dennoch sahen Fachleute auf den ersten Blick, dass es sich um veraltete und unbrauchbare Schiffe handelte. Die US Marine sollte sie später, vor allem in der Barentssee, einfach versenken. Die Deutschen selbst schauten der Begegnung der Siegermächte nur zu. Zwar war die Bundesrepublik durch die Pariser Verträge weitgehend souverän geworden, aber immer noch hatten die ehemaligen Besatzungsmächte besondere Rechte für ihre Streitkräfte. Die Bundesmarine sollte zudem erst ein Jahr später gegründet werden.
Trügerische Hoffnung
Viele hofften auch, dass die Rückgabe ein Zeichen für das Ende der verbissenen Konfrontation von West und Ost sein würde. Stalin war gestorben, Chrustschow hatte sich bei seiner Nachfolge durchgesetzt und viele hofften nun auf eine neue Zeit der Verständigung. Eine Hoffnung, die sich nicht bewahrheitete und bald standen sich die Amerikaner und die Sowjets im Kalten Krieg wieder gegenüber.
Von all dem berichteten zehn Jahre nach Ende des Krieges die Schiffe mit dem Roten Stern auf ihrer Flagge, die im Sommer 1955 in den Kieler Hafen einliefen.