Zeitreise: 90 Jahre Literatur-Nobelpreis für Thomas Mann
von Philip Schroeder
Ein "klassisches Werk der zeitgenössischen Literatur" - so begründete das Nobel-Komitee der Schwedischen Akademie 1929 die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Thomas Mann. Bekommen hat er ihn für seinen Debüt-Roman "Buddenbrooks". Darüber war er pikiert, denn der Spross einer Lübecker Kaufmanns-Dynastie war damals schon einer der maßgeblichen Autoren in Deutschland, hatte wenige Jahre vor der Verleihung sein Mammut-Werk "Der Zauberberg" veröffentlicht. Dass er den wichtigsten Literaturpreis der Welt nun für sein Erstlingswerk bekam, das damals schon fast 30 Jahren alt war, konnte Mann nicht nachvollziehen. Aber der Nobelpreis machte ihn zum literarischen Weltstar und aus einem bekannten und gut verkauften Buch einen Millionen-Bestseller. Schauplatz: das "Buddenbrookhaus" in der Lübecker Mengstraße 4. Noch heute zieht es Besucher aus aller Welt an.
So fühlt man sich als Romanfigur
Und heute? Die "Buddenbrooks" verkaufe sie eigentlich nur dann, wenn eine Schulklasse sich im Deutschunterricht damit beschäftige, sagt Buchhändlerin Juliane Hagenström Die Inhaberin der Stockelsdorfer Buchhandlung "Bücherliebe" hat das Buch nicht einmal im Bestand. Das müsse sie bestellen, sagt sie. Für sie selbst war der Roman aber schon in jungen Jahren ein echtes Leseerlebnis - schließlich stammt sie selbst aus einer alteingesessenen Lübecker Familie und in den "Buddenbrooks" taucht eine "Julchen Hagenström" auf. "Julchen, so wurde ich als Mädchen auch genannt", sagt die Buchhändlerin.
Lübecks Großbürger nahmen Mann Roman lange übel
Thomas Mann hat in den "Buddenbrooks" die bessere Lübecker Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts verarbeitet, vor allem seine eigene Familiengeschichte. Vorbild für "Thomas Buddenbrook" war vor allem sein Bruder Heinrich, für "Hanno Buddenbrook" er selbst. Lübeck wird nirgends im Buch erwähnt, aber für jeden Lübecker ist der Schauplatz nach wenigen Seiten klar zu erkennen. Das Buch erzählt vom langsamen Abstieg einer reichen Familie. Thomas Mann hatte lange und gründlich im Verwandtenkreis recherchiert - und lässt in den "Buddenbrooks" viele nicht immer liebevoll gezeichnete Charaktere auftauchen.
Zum Beispiel die neureichen Hageströms, die von der Familie Buddenbrook als Gegenspieler empfunden werden und die am Ende so viel reicher sind. "Die alteingesessenen Lübecker Familien haben es dem jungen Thomas Mann lange übelgenommen, dass sie teilweise regelrecht karikiert wurden," sagt die Literaturwissenschaftlerin Birte Lipinski. "Lübeck war schließlich klein, die führende Kaufmannsschicht erst recht", erklärt die Leiterin des "Buddenbrookhauses". Da wusste jeder sofort, wer dem Autor als Vorbild für welche Figur gedient haben musste. Für viele Lübecker war und ist es ein beliebter Zeitvertreib, sogenannte "Schlüssellisten" aufzustellen, also Tabellen mit den Romanfiguren und ihren Vorbildern.
Thomas Mann lieh sich den Namen eines Bürstenbinders
"So eine Liste habe ich auch von meinem Vater bekommen", sagt Buchhändlerin Juliane Hagenström. Dabei ist ihre Familie ein Sonderfall: Die Hagenströms tauchen auf der Liste nur auf der fiktiven Seite auf, denn Thomas Mann hat nie die realen Namen von Lübecker Familien verwendet. Vorbild für die reichen "Hagenströms" soll in Wirklichkeit die Familie Fehling gewesen sein. Die realen Hagenströms sind zwar in Lübeck auch alteingesessen, aber nicht großbürgerlich und erst recht nicht reich. "Meine Vorfahren waren Bürstenbinder, Handwerker, hatten ein kleines Geschäft", erzählt Juliane Hagenström. Thomas Mann sei zufällig auf das Geschäft gestoßen und habe sich den Namen ausgeliehen: "Zumindest wird das seit Generationen so in unserer Familie erzählt: Dass um die Jahrhundertwende ein junger Mann in den Laden kam und fragte, ob er den Namen in einem Roman verwenden dürfe."
Ob das stimmt? Schließlich lebte Thomas Mann hauptsächlich in Rom und München, als er die "Buddenbrooks" schrieb. Juliane Hagenström sagt: "Zumindest ist es eine schöne Geschichte." Den Namen der Bürstenbinder-Familie für eine schwerreiche Kaufmannsdynastie zu verwenden, habe keiner der Familie dem Autoren übel genommen. Seit Thomas Mann der Literaturnobelpreis bekommen hat, ist auch der Unmut der besseren Lübecker Gesellschaft verflogen. Heute könnte man sagen: Zur besseren Lübecker Gesellschaft gehört halt nur der wirklich dazu, dessen Familie als Vorbild in den "Buddenbrooks" gedient hat.