Wenn Schutz fehlt: Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

Stand: 08.04.2025 08:00 Uhr

Menschen mit Behinderung erleben überdurchschnittlich viel Gewalt. Das Problem ist seit Jahren bekannt. Woran scheitert der Schutz in Werkstätten und Wohneinrichtungen?

von Sebastian Heidelberger und Zita Zengerling

Nicole Burek arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Die 45-Jährige ist körperlich beeinträchtigt und hat eine psychische Erkrankung. Gewalt habe sie durch ihre ganzen Leben begleitet, sagt sie. "Ich bin eigentlich damit großgeworden, Gewalt zu erfahren. Sei es psychische Gewalt. Sei es körperliche Gewalt. Aber auch sexuelle Gewalt."

Aus ihrer Sicht haben viele Menschen mit Behinderung nicht gelernt, Gewalt als solche zu erkennen und sich zu wehren, denn sie würden in Abhängigkeiten und mit Machtverhältnissen aufwachsen. Nicole Burek sagt, dass die Täter in ihrem Fall aus dem privaten Umfeld kamen und auch bei ihrer früheren Arbeit habe sie Gewalt erlebt.

Studie: Viele haben psychische und körperliche Gewalt erlebt

Bundesministerium für Arbeit und Soziales © Screenshot
Mehr als 60 Prozent der Befragten, die in Wohneinrichtungen leben, haben psychische Gewalt erlebt. Das zeigt eine Studie im Auftrag des Bundessozialministeriums.

Wie ihr geht es vielen Menschen mit Beeinträchtigung. Das zeigen Studien im Auftrag des Bundessozialministeriums von 2024: Über 60 Prozent der Befragten, die in Wohneinrichtungen leben, haben psychische Gewalt erfahren, etwa Beleidigungen, Demütigungen oder Ausgrenzungen. Von körperlicher Gewalt berichtet mehr als die Hälfte.

Und auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist ein gravierendes Problem: 15 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gaben an, innerhalb der letzten drei Jahre davon betroffen gewesen zu sein. Das ist fast dreimal so häufig wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Gewaltschutzkonzepte allein reichen offenbar nicht aus

Die Täter:innen sind demnach häufig andere Menschen mit Behinderung, seltener auch Betreuungspersonal. Wie hoch zusätzlich die Dunkelziffer der Fälle ist, die nicht angezeigt oder bekannt werden, ist nicht erforscht. Die überdurchschnittliche Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigung ist kein neues Phänomen. Das Problem ist seit Jahren erforscht und bekannt. Seit 2021 sind Einrichtungen der Behindertenhilfe dazu verpflichtet ein Konzept für Gewaltschutz zu haben. Doch die weiterhin hohen Zahlen von Gewaltvorfällen zeigen: Das allein reicht offenbar nicht aus. Wie kann das sein?

"Es bräuchte meiner Meinung nach Mindeststandards. Jetzt ist das eher wahllos. Einrichtungen können Gewaltschutzkonzepte sehr unterschiedlich umsetzen", erklärt Sozialpädagogin Ann-Kathrin Lorenzen. Wichtig sei auch, Menschen mit Behinderung bei der Entwicklung von Konzepten mit einzubinden.

Beteiligung ist wichtig

Ann-Kathrin Lorenzen © Screenshot
Menschen mit Behinderung mit einbeziehen und nicht über deren Köpfe hinweg entscheiden, das wünscht sich Sozialpädagogin Ann-Kathrin Lorenzen.

Für die Organisation "Petze" setzt sie sich für Selbstbestimmung und Gewaltschutz für Menschen mit Behinderung ein. Dabei arbeitet sie mit unterschiedlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe zusammen, so beispielsweise auch mit der Stiftung "Drachensee" in Kiel. Hier hat sie gemeinsam mit Mitarbeitenden und Vertreter:innen aus der Werkstatt Methoden entwickelt. Nicht über die Köpfe der Mitarbeitenden und Bewohnerschaft mit Behinderung hinweg, sondern gemeinsam mit den Menschen, um die es geht.

Dieser partizipative Ansatz wird von Expert:innen empfohlen. Gesetzlich vorgeschrieben ist er nicht. Denn wie konkret Gewaltschutz aussehen muss und wie genau er sichergestellt wird, hängt in der Praxis zum Teil vom Engagement einzelner Mitarbeitender, vom verfügbaren Personal und Geld ab. In einem Arbeitsbereich in dem es seit Jahren an Geld und Personal fehlt.

Nicole Burek will nicht auf die Politik warten

Das zuständige Ministerium für Arbeit und Soziales verweist auf Anfrage auf die bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen. Man habe aber einen Arbeitskreis gegründet, der auch Vorschläge zu gesetzlichen Mindeststandards für Gewaltschutzkonzepte entwickle, so das Ministerium.

Nicole Burek will nicht auf die Politik warten. Sie ist mittlerweile Frauenbeauftragte in ihrer Werkstatt und berät nun andere, wie sie sich vor Gewalt schützen können, auch mit Hilfe ihrer Einrichtung, die sie dabei unterstützt. Mit Erfolg, wie sie sagt: "Das ist so schön: Frauen zu sehen, die vorher nicht in der Lage waren für sich selber einzustehen. Und dann auf einmal dahingehen und Nein sagen."

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 08.04.2025 | 21:15 Uhr

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