Stand: 11.09.2018 13:53 Uhr

Schlechte Infrastruktur: Alte bleiben auf der Strecke

von Kian Badrnejad

Inga Meier war schon immer ein unternehmungslustiger Mensch. Die 70-jährige Hamburgerin ist viel gereist, sie macht heute noch lange Spaziergänge durch den Stadtteil St. Georg, in dem sie groß geworden ist. "Früher bin ich spontan los, heute dauert einfach alles etwas länger", sagt sie. Warum, das sieht man, sobald sie ihre Wohnung in einem Stift für ältere Menschen in Hamburg-Barmbek verlässt.

Es ist nicht weit bis zur Begegnungsstätte der Arbeiterwohlfahrt (AWO), in der sie jeden Montag mit einer Gruppe Senioren Canasta spielt. Ein guter Kilometer, auf dem alles etwas länger dauert: Sie muss sich mit dem Rollator ihren Weg suchen, Schlaglöcher umfahren, nach abgesenkten Bordsteinen suchen und braucht oft länger als eine Grünphase, um eine Ampel zu überqueren. Sie flucht, wenn Sie mal wieder mit dem Rollator am Bordstein hängen bleibt. "Man muss sich Gedanken machen, ob man die Kantsteine richtig im Blick hat, ob nicht irgendwelche Löcher in den Straßen sind. Wenn man da reinfährt, dann kippt der ganze Rollator um. Das ist mir schon mal passiert."

Haltestelle ist nun barrierefrei

Die nächste U-Bahn-Haltestelle liegt nur hundert Meter entfernt. Jahrelang musste Inga Meier hier umdrehen. Die schmale Rolltreppe hinauf, das machte ihr Angst. Die Hamburger Hochbahn hat das Problem erkannt, 80 Prozent ihrer Haltestellen sind barrierefrei, seit Mitte August auch die von Inga Meier.

Bald ist jeder vierte Deutsche älter als 65 Jahre

Fehlende Barrierefreiheit in Norddeutschland © NDR Foto: Screenshot
In vielen Kommunen Norddeutschlands besteht dringender Handlungsbedarf was die Barrierefreiheit betrifft.

Nach gut 20 Minuten kommt sie bei der AWO an. Beim Canasta sitzt sie mit elf anderen Hamburger Senioren, die jüngste ist 65 Jahre alt, sie ist mit 70 Jahren die älteste. Schon jetzt gehören gut 330.000 Menschen in Hamburg zu dieser Altersgruppe, etwas weniger als jeder fünfte. Bis 2035, so schätzt das Statistikamt Nord, wird fast jeder vierte Hamburger im Rentenalter sein. Die norddeutsche Metropole gehört damit noch zu den jüngeren Bundesländern im Norden. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden es nach Angaben der Landesämter für Statistik fast ein Drittel alte Menschen sein, die Zahlen für Mecklenburg-Vorpommern werden derzeit ausgewertet, dürften aber mindestens ebenso hoch sein.

"Wir reden nicht über Millionen, wir reden über Milliarden"

Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund © NDR Foto: Screenshot
Eigentlich müsse man die ganze Stadt barrierefrei machen, meint Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund.

Auf die norddeutschen Kommunen, von der Metropole Hamburg bis zum niedersächsischen Dorf, wartet eine Mammutaufgabe, wenn die vielen älteren Menschen dort auch in Zukunft gut leben sollen. Laut Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund kann den gewaltigen finanziellen Aufwand derzeit niemand exakt einschätzen. "Aber wir reden hier nicht über Millionen, wir reden eindeutig über Milliarden", sagt er. "Das beginnt damit, dass Sie eigentlich eine ganze Stadt barrierefrei machen müssen. Machen Sie mal ein historisches Rathaus barrierefrei. Denken Sie an Schwimmbäder, denken Sie an viele Fußgängerüberwege, denken Sie an neue Formen der Mobilität. Wie kommt der alte Mensch mit seinem Rollator demnächst in den autonom fahrenden Bus, wo es ja keinen Fahrer mehr geben wird? All die Dinge wollen bedacht sein."

Altersgerechtes Wohnen in spezieller Siedlung

Inzwischen entdecken auch private Investoren das Potenzial der Alten und alt werdenden Menschen. Im niedersächsischen Baddeckenstedt hat ein Bauunternehmer eine Siedlung für Menschen ab 60 gebaut - komplett barrierefreie Häuser, verbunden durch breite Wege. Verena und Ulrich Gehring zeigen uns die Arztpraxis am Eingang der Siedlung. Einen Pflegedienst brauchen die beiden mit Mitte 60 noch lange nicht. Aber wenn es einmal so weit ist, gibt es die Caritas gleich nebenan. Rund 255.000 Euro kostet ein Haus mit ungefähr hundert Quadratmetern hier, die Ausstattung und die Infrastruktur haben die Gehrings überzeugt. Doch sie haben lange gezögert, ehe sie aus dem gut 250 Kilometer entfernten Bad Zwischenahn hergezogen sind. "Man gibt eine Menge auf", sagt Verena Gehring. "Es fehlen die Freunde, es fehlt die Stadt, die man vorher hatte, die ganze Umgebung. Man wusste, wo man hingeht, wo man was findet, mit wem man sich mal eben austauschen konnte. Das ist schon mal ein großer Schritt." Sie lernen gerade ihre neuen Nachbarn kennen und bauen sich hier einen neuen Freundeskreis auf. Gemeinsam malen sie sich auf der Terrasse die Zukunft aus. "Das wird schon was anderes, wenn hier in 20 Jahren alle mit dem Rollator unterwegs sind", lacht Gerd Skocdopole von nebenan.

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Gewohnte Umgebung nicht verlassen - aber wie?

Doch die meisten alten Menschen wollen in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Diesem Ziel hat sich Bürgermeister Heribert Kleene aus der 1.800-Einwohner-Gemeinde Vrees im Emsland verschrieben. Als vor zwölf Jahren zum ersten Mal eine alte Dame aus dem Dorf in ein Altenheim ziehen musste, gründete der Vreeser Heinz Peters den Arbeitskreis "Altwerden in Vrees", Kleene stieg begeistert mit ein. Er sagt: "Es kann nicht sein, dass diejenigen, die hier unser Dorfgemeinschaftsleben mitgeprägt haben, dass die dann weg müssen, wenn sie die Hilfe der Dorfgemeinschaft brauchen." Seitdem ist viel passiert: Es gibt eine Tagesbetreuung für Alte mitten im Dorf. Direkt daneben hat die Gemeinde mit Unterstützung des Landes für eine Million Euro fünf altersgerechte Wohnungen gebaut. Vor einigen Monaten ist die 89-Jährige Renate Bartkowiak hier eingezogen. Ihre alte Wohnung war zu eng für den Rollator. Sie war einige Male gestürzt, hatte sich einmal sogar vier Rippen gebrochen. Ohne die neuen Wohnungen hätte sie in ein Heim gemusst. Die eigene Wohnung ist für sie ein Stück Lebensqualität: "Man kommt sich nicht so alt vor. Ich werde 90 im Januar. Aber wenn man noch so in einer eigenen Wohnung ist, dann ist das schon was anderes."

Anteil alter Menschen wird sich verdoppeln

Für Bürgermeister Kleene und seinen Arbeitskreisvorsitzenden Peters ist das erst der Anfang. Ein Ehrenamtsnetzwerk ist geplant, eine Turnhalle mit Sportangebot für die Alten und ein ehrenamtlicher Fahrdienst. Denn auch in Vrees werden die Alten mehr, bis 2030 wird sich der Anteil der Menschen über 65 auf 585 mehr als verdoppeln. Kleene stellt fest: "Wenn man weiß, dass die meisten Menschen am liebsten in den eigenen vier Wänden alt werden möchten, dann sollte man sich auf den Weg machen, neue Strukturen zu entwickeln, um die Lebensqualität auch für die älteren Menschen in der Dorfgemeinschaft zu erhalten." Er hat damit begonnen, sich der Herausforderung zu stellen, die sehr bald auf alle norddeutschen Kommunen zukommt, vom kleinen Dorf im Emsland bis zur Milllionenstadt Hamburg.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 11.09.2018 | 21:15 Uhr

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