Zu Unrecht beobachtet: Verfassungsschutz muss Daten löschen

Stand: 08.02.2022 16:53 Uhr

Der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern hat über Jahre Daten über einen Rostocker gesammelt: welche Demonstrationen er anmeldete, besuchte oder auf welchen er Reden hielt. Diese Beobachtung war illegal, hat nun ein Gericht entschieden.

von Philipp Hennig, Hannes Stepputat

Imam-Jonas Dogesch lebt seit fast 20 Jahren in Rostock. In der Stadt ist der 57-Jährige bekannt, er ist seit vielen Jahren Mitglied des Migrantenrats, einem anerkannten kommunalen Gremium. Regelmäßig kommt er in der Lokalpresse zu Wort, wenn es um Rassismus geht. Und er meldet immer wieder Demos an, etwa für das Bündnis Rostock Nazifrei.

Verfassungsschutz beobachtete Dogesch jahrelang

Für dieses Engagement interessierte sich auch der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern. Mindestens vier Jahre lang registrierte der Dienst, welche Veranstaltungen Dogesch anmeldete, welche Kundgebungen er besuchte, auf welchen Versammlungen er Reden hielt. Als Dogesch durch ein Auskunftsersuchen davon erfuhr, zog er vor Gericht.

Gedenkveranstaltung für das Rostocker NSU-Opfer Mehmet Turgut © NDR Foto: Screenshot
Auch bei einer Gedenkveranstaltung für das Rostocker NSU-Opfer Mehmet Turgut wurde Imam-Jonas Dogesch vom Verfassungsschutz beobachtet.

17 Einträge zu 14 Veranstaltungen weist das Urteil aus, das Panorama 3 vorliegt. Sie stammen aus den Jahren 2016 bis 2019. Es sind Demonstrationen gegen Aufmärsche der AfD darunter, Kundgebungen gegen den türkischen Präsidenten Erdogan, gegen den Terror des IS in Syrien oder gegen Abschiebungen aus Deutschland. Auch das offizielle Gedenken an das Rostocker NSU-Opfer Mehmet Turgut, das Dogesch jedes Jahr anmeldet, speicherte der Verfassungsschutz. Turgut war 2004 von den Rechtsterroristen des NSU in Rostock ermordet worden.

Verwaltungsgericht: Datenspeicherung war illegal

Gegenüber dem Gericht argumentierte der Verfassungsschutz, er beobachte Dogesch nicht als Einzelperson. Man versuche vielmehr, einen Überblick über Entwicklungen und Aktivitäten in der linken Szene zu bekommen. Zu den Veranstaltungen von Dogesch kommen demnach auch radikale Linke.

Das Urteil der Schweriner Verwaltungsrichter ist eindeutig: Die Datenspeicherung des Verfassungsschutzes war illegal, die Daten müssen gelöscht werden. Für das Gericht ist klar, dass Dogesch keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolge. Die Themen seiner Veranstaltungen seien nicht verfassungsfeindlich, sondern "Gegenstand diverser Diskurse, die sich durch alle politischen Ebenen ziehen", heißt es im Urteil.

Flucht aus der Türkei nach Gefängnis und Folter

Für Dogesch ist die Entscheidung zwar Genugtuung, das Verhalten des Verfassungsschutzes empört ihn aber noch immer. Vor mehr als 20 Jahren kam er aus der Türkei nach Deutschland. Mehrfach saß der Gewerkschafter schon in türkischen Gefängnissen, wurde immer wieder gefoltert, so erzählt er es. Insgesamt ein Jahr seines Lebens, schätzt er, habe er in Hungerstreiks verbracht. "Es waren grausame Zeiten", sagt er. Schließlich wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt. Diese Strafe droht ihm noch immer, würde er zurückkehren, sagt er. Sein Aufenthaltsrecht in Deutschland musste er sich erkämpfen: Drei Jahre verbrachte er in Rostock im Kirchenasyl, bevor er die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und aufatmen konnte.

Dogesch: "Ich dachte, ich tue das alles für die Demokratie"

Dass nun auch in Deutschland ein Nachrichtendienst auf ihn aufmerksam wird, hätte er sich nicht vorstellen können. "Ich dachte, ich tue das alles für die Demokratie und tue alles für unseren Staat", sagt Dogesch. Die Themen seiner Versammlungen seien "für Demokratie, für Menschenrechte, für Sozialstaat" gewesen. Dafür beobachtet zu werden, mache ihn wütend, machtlos, sprachlos. "Die Politik fordert uns Migranten auf, aktiv zu werden. Und dann überwacht man einen aktiven Migranten, das kann ich immer noch nicht annehmen."

Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern antwortet auf unsere Anfrage zum Fall von Imam-Jonas Dogesch: "Die Aufgabe des Verfassungsschutzes besteht darin, frühzeitig Informationen über Bestrebungen zu sammeln, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten." Dazu gehöre auch die "Anmeldung von und die Teilnahme an Versammlungen mit Bezügen zu extremistischen Bestrebungen."

Linken-Politiker Ritter: Behörden "weit über Ziel hinausgeschossen"

Peter Ritter (Linke) © NDR Foto: Screenshot
Peter Ritter war 27 Jahre lang Abgeordneter, zuletzt als Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion Die Linke. Das Vorgehen des Verfassungsschutzes im Fall Dogesch irritiert ihn.

Der frühere Innenpolitiker Peter Ritter (Linke) glaubt nicht, dass Dogesch ein Einzelfall ist. "Das kann ich mir nicht vorstellen", sagt Ritter. Bis zur Landtagswahl im letzten Jahr war er innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Landtag, bis 2018 saß er auch in der Kommission, die den Verfassungsschutz kontrollieren soll. Er verließ das Gremium, weil er über seine gleichzeitige Arbeit in der Kontrollkommission und im NSU-Untersuchungsausschuss in Interessenkonflikte geraten war.

"Ich finde das nicht nachvollziehbar und auch nicht begründbar, warum der Verfassungsschutz, wie hier in diesem Fall, Anmeldungen einer antifaschistischen Demonstration zum Beobachtungsgegenstand erklärt", sagt Ritter. Wenn dies allein für eine Beobachtung ausreiche, dann habe er starke Zweifel an der Ausrichtung des Verfassungsschutzes. "Die juristische Begleitung dieses Falles hat ja gezeigt, dass die Behörden hier weit über das Ziel hinausgeschossen sind." Auch wenn die Datenspeicherungen zu Dogesch noch unter CDU-geführtem Innenministerium geschahen, erwarte Ritter von den heute Zuständigen der SPD eine Entschuldigung bei Dogesch: "So viel politischer Anstand muss sein."

Funktioniert die Geheimdienstkontrolle in Deutschland?

Für Ritter reicht das Problem aber tiefer: Er sieht eine mangelhafte Kontrolle des Verfassungsschutzes, die solche Fehler begünstige. "Das liegt in der Natur der Sache dieser Dienste, dass sie selbst wenig Interesse daran haben, sich kontrollieren zu lassen." Die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle durch das Parlament sei ein untaugliches Instrument, sagt Ritter. Die Sitzungen der Kontrollkommission seien Placebo-Veranstaltungen: "Man kriegt zwar Informationen, man weiß aber nicht, ob die Informationen vollständig sind. Man kann mit diesen Informationen nichts anfangen."

Denn Ritter unterliegt, genau wie die anderen aktiven und ehemaligen Mitglieder des Kontrollgremiums, einer Schweigepflicht. Er darf nicht darüber sprechen, was er dort gehört oder gelesen hat, sonst macht er sich strafbar. "Unter parlamentarischer Kontrolle stelle ich mir etwas anderes vor. Zum Beispiel, dass man Akteneinsicht hat und dass man dann auch für die Politik daraus Handlungsleitlinien fertigstellen kann."

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 08.02.2022 | 21:15 Uhr

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