Verfahren gegen KZ-Sekretärin: Warum noch heute?
Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird heute noch gegen mutmaßliche NS-Verbrecher*innen ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hat im Januar eine ehemalige Schreibkraft eines Konzentrationslagers wegen Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen angeklagt.
Irmgard F., heute 95 Jahre alt, war Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig. Ihr wird vorgeworfen, das Morden im KZ unterstützt zu haben.Die Meinungen darüber, was solche Verfahren 76 Jahre nach dem Kriegsende bringen, sind ganz unterschiedlich.
"Die Aufarbeitung finde ich grundsätzlich sinnvoll, auch wenn das für einen alten Menschen in gewisser Weise eine Zumutung darstellt, wenn man das so spät zum Lebensende tut", sagt Rechtsanwalt Wolf Molkentin im Interview mit Panorama 3. Er ist der Verteidiger von Irmgard F. Ein solches Verfahren sei auch eine Chance, so Molkentin, sich damit auch persönlich auseinanderzusetzen.
In einem Prozess würde er auch sicherstellen wollen, dass den Überlebenden der NS-Verbrechen Gehör geboten werde, sagt Molkentin. Mit seiner Mandantin sei er sich darüber einig, dass die Verteidigung die historischen Tatsachen nicht infrage stellt. "Den industriellen Massenmord werden wir nicht anzweifeln", stellt Molkentin klar. Die individuelle Schuld seiner Mandantin sei aber noch nicht bewiesen, die müsse das Gericht klären.
Beleidigungen gegen Staatsanwaltschaft
Juristisch zweifelsfrei ist: Mord verjährt nicht und Beihilfe zum Mord auch nicht. Die Staatsanwält*innen müssen gegen die mutmaßlichen Täter*innen auch heute noch ermitteln. Dass die "einfache" Tätigkeit in einem KZ juristisch als Mordhilfe gewertet wird, hat mit einer Änderung der Rechtspraxis zu tun. Den Beginn dieser Änderung markiert das Urteil gegen John Demjanjuk, der in München 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Demjanjuk war Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, ihm konnten aber keine eigenhändigen Mordtaten nachgewiesen werden. Seitdem werden auch einfache Wachleute aus Konzentrationslagern, in denen systematisch gemordet wurde, wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. So wurden die Auschwitz-Wächter Oskar Gröning und Reinhold Hanning zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im vergangenen Jahr sprach das Landgericht Hamburg den Stutthof-Aufseher Bruno Dey schuldig und verurteilte ihn zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe.
Ab 1943 Sekretärin im KZ Stutthof
Irmgard F., die in einem Pflegeheim im Kreis Pinneberg lebt, wird vorgeworfen, von dem Morden im KZ Stutthof gewusst und mit ihrer Tätigkeit das KZ-System unterstützt zu haben. In Stutthof und den Außenlagern ermordeten die Deutschen etwa 65.000 Menschen. Im Lager wurde mit einer Genickschussanlage, mit Giftspritzen und dem Giftgas Zyklon B gemordet. Außerdem starben durch die lebensfeindlichen Bedingungen Zigtausende, etwa an den Folgen einer Typhus-Epidemie. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft wirft F. Beihilfe zum Mord in mindestens 11.430 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in weiteren Fällen vor.
Von Juni 1943 an war die damals 18-jährige F. als persönliche Sekretärin und Stenotypistin des Kommandanten des KZ Stutthof tätig. Ihren Chef, den KZ-Kommandanten Paul Werner Hippe, hatte F. in einer Aussage in den 1950ern als "pflichtbewusst" beschrieben. Über ihren Schreibtisch sei der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt gelaufen, sagte F. in einer Zeugenvernehmung damals. Durch ihre Tätigkeit habe F. von den Vorgängen im KZ detailliert Kenntnis gehabt, so die Anklage. Nach Informationen von Panorama 3 bezeichnete F. die Vorwürfe gegenüber Ermittlern im Jahr 2017 als "lächerlich". Zu den Tatvorwürfen will sich F.s Anwalt nicht äußern.
Historiker: Fokus auf Täter*innen
Für den Historiker Professor Jens-Christian Wagner bergen Verfahren wie das gegen Irmgard F. noch heute eine Chance für die Gesellschaft. Zwar könnte die heutige Aufklärung von einzelnen Tatkomplexen vor Gericht die Schuld der versäumten juristischen Aufarbeitung nicht wiedergutmachen. Doch heutige Gerichtsverfahren könnten ein Anstoß sein, sich intensiver mit den "kleinen" Täter*innen zu befassen. "Tatsächlich kann es, wenn vor Gericht darüber gesprochen wird, wie ein KZ funktioniert - das war ja quasi ein Uhrwerk mit ganz vielen kleinen Rädchen (…) Das kann insofern hilfreich sein, die breite Arbeitsteilung bei den NS-Verbrechen - dass das gesellschaftlich weiter transportiert wird und dazu beiträgt, dass Verbrechen eben nicht nur von einigen Exzesstätern und von einigen 'ganz da oben' begangen wurden, sondern dass Verbrechen immer nur dann funktionieren, wenn ein großer Teil der Bevölkerung mitmacht", so Wagner.
Mit den Mechanismen, die zu den Gewaltverbrechen geführt haben, müsse sich die Gesellschaft stärker beschäftigen, fordert Wagner. "Das Trauern um Opfer ist wohlfeil, wenn man nicht danach fragt, warum Menschen zu Opfern geworden sind. Und das wird viel zu wenig gemacht." Die späten Prozesse gegen mutmaßliche NS-Verbrecher*innen könnten dazu beitragen, der breiten Bevölkerung etwa das "arbeitsteilige" Morden in einem Konzentrationslager vor Augen zu führen, hofft Wagner.
Das Landgericht Itzehoe prüft derzeit die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten. Ein Prozess könnte im dritten Quartal beginnen.