Tödlicher Hafencity-Unfall: Angehörige warten noch auf Aufklärung

Stand: 21.05.2024 18:02 Uhr

Alfred Visha war einer der fünf Bauarbeiter, der im Oktober letzten Jahres sein Leben bei dem Unfall auf der Großbaustelle im Hamburger Überseequartier verlor. Ein Gerüst aus dem achten Stock brach zusammen und riss ihn und vier weitere Bauarbeiter hinunter in einen innenliegenden Fahrstuhlschacht. Alfred war der Einzige, der es noch ins Krankenhaus schaffte.

von Esra Özer

Alma Frangu war bei Alfred Visha, als er im Krankenhaus lag. Sie ist seine Cousine und arbeitet als Krankenschwester in Deutschland. Zehn Tage lag Alfred im Koma, erzählt sie, dann starb er im Krankenhaus. Alfred wurde nur 34 Jahre alt. 

Wir haben Alma Frangu kurz nach dem Unfall zum ersten Mal getroffen. Seitdem halten wir Kontakt zu ihr. Als sie im März die Familie in Albanien besucht, nimmt sie uns mit auf die Reise. Kurdari ist ein kleines Dorf hoch in den Bergen, etwa zwei Stunden von der Hauptstadt Tirana entfernt. Nur wenige Familien leben hier. Vater Basir Visha bringt uns zu einer Hausmauer. 70 Wagenladungen Steine habe er für diese Mauer aus den Bergen hinuntergeschleppt. Nach acht Jahren seien sie fertig gewesen, "mit Fredi", so nannten sie ihren Sohn Alfred. Er war das älteste Kind und sei schon immer fleißig gewesen, erzählt die Mutter. 

Hafencity Unfall © NDR
Alfred Visha ist einer der fünf Bauarbeiter, der nach dem Unfall auf der Großbaustelle im Überseequartier verstorben ist.

Die Familie hat wenig Geld. 2020 geht Alfred zum ersten Mal zum Arbeiten nach Deutschland. Zuvor hatte er es auch mal in Griechenland versucht. Dort habe er nicht genug verdient, erzählen die Eltern. Drei Jahre war er danach in Deutschland, seit September in Hamburg. Für den "Bau der neuen Stadt", so der Vater. Er wollte seiner Frau, seinen drei Kindern und seinen Eltern ein besseres Leben ermöglichen.

Der Vater zeigt die Sachen, die er am Unfalltag bei sich trug. Es ist ein Baustellenausweis aus dem Überseequartier - von einem anderen Mann. Das Foto - zerkratzt. Auf dem Ausweis stehen außerdem zwei Firmennamen. Ihr Sohn habe ohne Arbeitserlaubnis auf der Baustelle gearbeitet, sagt die Mutter. "So wie alle Migranten. Sie haben ihm gesagt, er soll erst zur Probe arbeiten und später gäbe es dann die Papiere."

Hafencity Unfall © NDR
Der Baustellenausweis, den Visha bei sich trug, ist von einem anderen Mann.

Das könnte besonders jetzt ein Problem für die Familie sein. Wäre Alfred regulär angestellt gewesen, hätten seine Angehörigen Anspruch auf eine Rente oder Entschädigung. In seinem Fall ist noch unklar, ob die Familie entschädigt wird. Die unklaren Verantwortlichkeiten werden dadurch begünstigt, dass Alfred anscheinend für einen Subunternehmer im Überseequartier gearbeitet hat. Und bisher habe sie keine offizielle Stelle aus Deutschland kontaktiert, erzählen die Eltern.

Sechs Monate nach dem Unfall hat die Familie noch viele Fragen: Wer hat Schuld? Und haben die deutschen Behörden diese Unterlagen jemals gesehen? 

Ermittlungen dauern noch weiter an

Bei der Staatsanwaltschaft heißt es, sie ermittle bis heute wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt und zur Unfallursache - jedoch nicht, ob die Arbeiter in Deutschland legal beschäftigt waren. Zu den konkreten Ermittlungen möchte bei der Staatsanwaltschaft niemand mit uns sprechen.

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Einsatzkräfte in der Nähe einer Baustelle in der Hamburger Hafencity, auf der es einen tödlichen Arbeitsunfall gegeben hat. © NDR Foto: Finn Kessler
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Das Überseequartier gilt als eines der wichtigsten Prestigeprojekte - mitten in Hamburgs neuem Glanzviertel, direkt an der Elbe. Der Hamburger Senat setzt viel daran, um die Hafencity voranzubringen. 2015 stellte Kanzler Olaf Scholz, damals noch Erster Bürgermeister in Hamburg, den neuen Investor vor. Unibail-Rodamco-Westfield und sein Bauvorhaben: Mit glamourösen Geschäften, tausenden Wohnungen, mehreren Luxushotels und sogar einem Kreuzfahrt-Terminal. Doch zu welchem Preis wird hier gebaut? Und bezahlen ihn am Ende Menschen wie Alfred Visha? 

Berufsgenossenschaft ermittelt parallel zur Staatsanwaltschaft

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Markus Mohr hat auch die Baustelle, auf der Alfred Visha starb, kontrolliert.

Markus Mohr gehört zu den Menschen, die genau wissen, wie eine Baustelle aussehen sollte, was für Sicherheitsvorkehrungen wesentlich sind und was man tun muss, um Unfälle wie den von Alfred Visha zu verhindern. Mohr arbeitet für die Berufsgenossenschaft, er kontrolliert Baustellen - auch die, auf der Visha arbeitete. Man kann ihm anmerken, wie sehr er sich zusammenreißt, als er über den Unfall aus dem Oktober spricht.

Da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, darf er nicht über alles sprechen. Aber seine Wut kann er schwer zurückhalten, vielleicht will er es auch nicht mehr. Oft passierten Fehler, weil Subunternehmer ungelernte Arbeiter auf die Baustelle brächten, erzählt er. Auch in der Hafencity war er mehrfach und habe immer wieder Mängel festgestellt.

Den tödlichen Unfall von Visha hat Mohr für die Berufsgenossenschaft untersucht. Als er vor Ort war, lagen die Leichensäcke noch an der Unfallstelle. Immer wieder hätten die Handys der Verstorbenen geklingelt, erzählt er. Das beschäftigt ihn heute noch. Die Unfallursache ist noch nicht abschließend geklärt, für Mohr zeichnet sich aber eines klar ab: Das Gerüst sei überladen gewesen mit großen, schweren Steinen. 

Strukturelles Problem auf deutschen Baustellen?

Aldona Kucharchuk spricht von einem strukturellen Problem auf deutschen Baustellen. In der Beratungsstelle "Arbeit und Leben" kümmert sie sich um Arbeiter, viele aus Osteuropa. Rund 1.500 Fälle bearbeitet die Stelle insgesamt in Hamburg jedes Jahr.

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Aldona Kucharchuk berät viele Arbeiter auf Baustellen.

Aus der Sicht von Aldona Kucharchuk habe sich seit dem Unfall nicht viel geändert auf der Baustelle im Überseequartier. Immer mehr Hilfesuchende würden sich bei "Arbeit und Leben" melden, meistens, wenn es bereits zu spät sei. Oft gäbe es Probleme wegen Subunternehmern, die die Arbeiter ausbeuten würden. "Viele erzählen uns, sie hätten das niemals gedacht, dass in Deutschland so eine Unordnung herrscht. Dass die Löhne nicht bezahlt werden, dass Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten werden."

Kucharchuck stellt Kontakt zu einem Arbeiter her, der bis vor Kurzem auf der Baustelle im Überseequartier gearbeitet haben soll. Seinen Namen möchte er nicht veröffentlichen. Er zeigt Fotos, auf denen Arbeiter ohne Sicherung auf Luftschächten sitzen oder hoch oben auf einer Leiter stehen und von dort aus arbeiten. Die Fotos stammen vom Überseequartier, sagt er. Wir zeigen die Bilder einem Experten. Der stellt fest: Solche Situationen seien hoch problematisch und verstießen gegen Sicherheitsvorschriften. 

Das Amt für Bauordnung bestätigt auf Anfrage vom NDR, dass es auch nach dem Unfall Mängel auf der Baustelle festgestellt habe. Acht Inspektionen zwischen November 2023 und April 2024 seien durchgeführt worden, dabei seien unter anderem folgende Mängel festgestellt worden: Unvollständige Absturzsicherungen oder Nutzung von Sprossenleitern als Arbeitsplatz.

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Blick aus der Luft auf die Großbaustelle im Überseequartier in der Hamburger Hafencity. © picture alliance

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Laut Hamburger Stadtentwicklungsbehörde wurden die Mängel aber nicht direkt an der späteren Unfallstelle festgestellt. Ende Oktober waren fünf Bauarbeiter ums Leben gekommen. mehr

Wer ist verantwortlich für die Sicherheit auf der Baustelle?

Für die Sicherheit auf der Baustelle ist prinzipiell der Bauherr verantwortlich. Doch wenn dieser Subunternehmer beauftragt, wird es schnell unübersichtlich, wer die Verantwortung trägt. Bauherr beim Überseequartier ist das Unternehmen Unibail-Rodamco-Westfield. Wie schon vor sechs Monaten bekommen wir kein Interview. Schriftlich weist Westfield die Verantwortung von sich. Für die Arbeiten an der Unfallstelle sei eine Firma beauftragt worden. Dieser Subunternehmer sei auch für die Sicherheit verantwortlich.   

Die Spuren auf dem Baustellenausweis von Alfred Visha führen zu zwei Unternehmen nach Berlin, eines davon mit dem Namen Hysenbau. Vor Ort möchte niemand mit uns sprechen. Auch auf unsere Fragen reagieren sie nicht. 

Das zweite Unternehmen heißt Liberty Construction. Hinter der Adresse verbirgt sich offenbar nur ein Briefkasten. Schließlich reagiert der Geschäftsführer von Liberty Construction doch auf die schriftliche Anfrage.

Er sei immer noch schockiert und klagt über den Investor Westfield. Sie hätten ihm den Vertrag gekündigt. Außerdem täte ihm leid, was seinen Mitarbeitern passiert sei. Er weist - so wie Westfield zuvor auch - die Verantwortung von sich. In seiner E-Mail macht er den Investor Westfield und die Bauaufsicht für den Unfall verantwortlich. Man hätte besser kontrollieren müssen, so der Geschäftsführer. Auf weitere Fragen, wie der, ob die Arbeiter legal bei ihm beschäftigt waren, antwortet er nicht mehr.  

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Ranklotzen im südlichen Überseequartier: Am 25. April soll zur Eröffnung alles fertig sein. © NDR/MIRAMEDIA

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Während in Deutschland die Verantwortung noch von Einem zum Nächsten geschoben wird, wartet 2.000 Kilometer entfernt eine Familie immer noch auf Antworten. Bisher hätte sich niemand bei ihnen persönlich gemeldet, weder der Bauherr, noch die Stadt Hamburg, noch die Ermittlungsbehörden, sagen sie. Als sei Alfred Visha einfach nicht wichtig genug. 

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 21.05.2024 | 21:15 Uhr

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