Mordverdächtige aus U-Haft entlassen: Justizpanne in Bremen?

Stand: 31.05.2022 18:36 Uhr

Drei Männer stehen im Verdacht, in Bremen einen 46-Jährigen getötet zu haben. Seit Ende vergangenen Jahres saßen sie deshalb in Untersuchungshaft. Doch nun die spektakuläre Wende: Die Tatverdächtigen sind wieder auf freiem Fuß - weil die Regelzeit der U-Haft ablaufen war. Wie konnte es dazu kommen?

von Marie Blöcher, Simona Dürnberg und Anna Klühspies

Zum Treffen hat Lisa-Marie Michalke ein paar Fotos mitgebracht: Ihr Bruder Marco W. ist darauf zu sehen. Er blickt in die Kamera. Im Urlaub am Mittelmeer. Vor seinem schicken Auto. Am Anleger im Hamburger Hafen. Im Frühjahr 2020 verschwindet er plötzlich spurlos aus Bremen, wo er damals lebt. "Man sieht ihn, man ist glücklich im einen Moment", sagt Lisa-Marie Michalke. "Und wenn man dann wiederum realisiert, was passiert ist, dann reißt es einem wieder sozusagen den Boden unter den Füßen weg." Denn mittlerweile ist klar: Marco W. wurde ermordet.

Frist von sechs Monaten überschritten

Ein Polizeihund wird an der Linie geführt von einem Polizisten und schnüffelt auf dem Boden. © NDR Foto: Screenshot
Im Frühjahr 2020 verschwindet Marco W. spurlos aus Bremen. Seine Leiche wird an verschiedenen Orten gefunden.

Eineinhalb Jahre nach dem Verschwinden des 46-Jährigen nimmt die Bremer Polizei drei Tatverdächtige fest. Der Vorwurf: Sie sollen W. gemeinschaftlich getötet, zerstückelt und anschließend an verschiedenen Orten vergraben haben. Die Männer kommen in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, einem Prozess steht eigentlich nichts mehr im Wege.

Doch nun die spektakuläre Wende: Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen beendet die Untersuchungshaft, setzt die Angeschuldigten damit wieder auf freien Fuß. Der Grund: Die Frist von einem halben Jahr von der Festnahme bis zum Prozessbeginn sei überschritten worden, so die Haltung der Richter. Nun muss sich die Bremer Justiz fragen lassen: Wie konnte es dazu kommen?

Anwalt: "Zweifel am Rechtsstaat"

Lisa-Marie Michalke (r.) mit ihrem Anwalt Roman von Alvensleben. © NDR Foto: Screenshot
Lisa-Marie Michalke (r.) und der Anwalt der Nebenklage, Roman von Alvensleben, kritisieren das Vorgehen der Bremer Justiz.

"Ich finde, das alles ist für mich ein Skandal, der so nicht sein darf", sagt Roman von Alvensleben, der Rechtsanwalt von Lisa-Marie Michalke. Er vertritt sie als Nebenklägerin in diesem Fall.

"Das ist schon Zweifel am Rechtsstaat bei mir, weil wir darauf vertrauen müssen, dass das funktioniert, gerade bei Kapitalverbrechen. Und welches Verbrechen ist das Schlimmste, das man begehen kann? Welches Verbrechen ist das, was nie verjährt? Mord. Und darüber reden wir hier gerade."

Ein zu komplexer Fall?

Der Prozess sollte am Landgericht Bremen (LG) stattfinden. Dort wurde es versäumt, innerhalb von sechs Monaten das Hauptverfahren zu eröffnen. In einer ersten Stellungnahme am 18. Mai heißt es: "Die Einarbeitung in das umfangreiche Verfahren gestaltete sich angesichts der oben dargelegten Belastung der Kammer, des Umfangs der Akte und der zu prüfenden Rechtsfragen als äußerst schwierig." War das Gericht also schlicht und einfach überlastet, kam es so zur Freilassung?

Thorsten Prange © NDR Foto: Screenshot
Der Pressesprecher vom Landgericht Bremen, Thorsten Prange, verweist auf die Komplexität des Falls.

Bei unserem Interview mit dem Sprecher des LG, Thorsten Prange, hört sich das plötzlich ganz anders an: "Die Kammer war stark belastet, aber das war nicht das ausschlaggebende Argument dafür, dass wir nicht innerhalb von sechs Monaten mit der Hauptverhandlung beginnen konnten." Es habe vielmehr an der Komplexität des Falles gelegen. Diese Komplexität sei durchaus berücksichtigt worden bei der Entscheidung des OLG, sagt dessen Sprecher Peter Lüttringhaus. Dennoch: "Der Senat ist der Auffassung gewesen, das Landgericht hätte es schaffen können."

Richterbund: Justiz am Limit

In der Debatte um die Freilassung der Tatverdächtigen hat sich auch der Bremische Richterbund zu Wort gemeldet. Dessen Vorsitzender Andreas Helberg hat eine eindeutige Position: "Die Justiz in Bremen arbeitet seit Jahren konstant am Limit und ist alles andere als gut ausgestattet."

Ist also doch eine Überlastung des Gerichts der Grund für die Justizpanne? Dem widerspricht Bremens Justizsenatorin Claudia Schilling vehement. Sie sagt aber auch: "Die Aufhebung der Haftbefehle in dem aktuellen Fall war das Resultat einer Verkettung verschiedener Umstände. Und eben dies gilt es zukünftig zu vermeiden. Das ist eine Aufgabe, der sich die Justiz, aber - soweit es in ihrem Einflussbereich liegt - auch die Politik stellen muss."

Nüchterne Entscheidung

Dass die Entscheidung des OLG für die Freilassung für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar sei, könne er verstehen, sagt dessen Sprecher Lüttringhaus. Aber: "Das muss eben ganz nüchtern anhand der Fakten entschieden werden. Und da darf man sich nicht davon leiten lassen, dass die Tat vielleicht, die hier in Rede steht, besonders schrecklich, besonders grausam war."

Situation für Angehörige "sehr belastend"

Und wie fühlt sich Lisa-Marie Michalke angesichts des Hin und Her der Bremer Justiz? "Es ist sehr belastend", sagt sie. Natürlich wegen der Freilassung. Aber auch noch wegen der Tatsache, "dass man ja seinen Bruder nicht beerdigen kann und einfach auch nicht vernünftig Abschied nehmen kann, trauern kann, um das irgendwie versuchen zu verarbeiten."

Wann es zu einer Verhandlung kommt, ist noch unklar. So lange dürfen sich die mutmaßlichen Täter frei bewegen.

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Panorama 3 | 31.05.2022 | 21:15 Uhr