Immer jünger? Eine neue Generation Neonazis
Im Sommer demonstrierten in vielen deutschen Städten Neonazis gegen Christopher Street Days. Viele der rechtsradikalen Teilnehmer waren auffallend jung - ein Sozialwissenschaftler sieht derzeit die Entstehung einer neuen, rechtsradikalen Jugendkultur.
Als im vergangenen Sommer in vielen deutschen Städten Neonazis gegen Christopher Street Days (CSDs) demonstrierten, fiel schnell eines auf: Viele der Teilnehmer waren auffallend jung, manche eigentlich noch Kinder.
Das Forschungsinstitut CeMAS hat die Aktionen gegen die CSDs untersucht und mindestens 27 Aktionen bundesweit gezählt. Die Autoren sprechen mit Blick auf die zahlreichen Jugendgruppen unter den rechtsradikalen Teilnehmern von einer potenziellen Bedrohung für, zum Beispiel, Homosexuelle. Entsteht gerade eine neue, extrem rechte Jugendbewegung?
Finn ist Schüler einer Schule in Vorpommern. Der Teenager heißt in Wirklichkeit anders, auch seine Schule soll nicht genannt werden - zu groß ist das Risiko, dass ihn jemand erkennt. Er berichtet von Hitlergrüßen auf dem Schulhof, von Memes, die sich über das Vergasen von Juden lustig machen und in Chatgruppen verschickt werden. "Da werden einfach Sachen gesagt wie: "Wir sollten jeden Ausländer vergasen", oder "dass es sich lohnen würde, wieder einen Holocaust zu haben." An seiner Schule, schätzt Finn, seien 70 bis 80 Prozent der Schüler rechts.
GEW: "Wir sehen definitiv eine Verschiebung"
Der Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Nico Leschinski, bestätigt die Eindrücke des Schülers. "Wir stellen fest, dass Schüler unbefangener und viel offener und mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit rechtsextreme Positionen vortragen, die vor einigen Jahren noch unsagbar, wenn nicht sogar undenkbar waren", sagt Leschinski, der selbst Sozialkunde- und Geschichtslehrer eines Gymnasiums ist. Früher sei man als Lehrkraft eher überrascht gewesen, wenn sich ein Schüler rechtsradikal geäußert habe. "Heute ist das eher so, dass die ihre politische Auffassung den Lehrkräften gerne auf die Nase binden. Da sehen wir definitiv schon eine Verschiebung."
Die Ursache dafür sieht der Gewerkschafter in einem gesellschaftlichen Rechtsruck, den auch Schüler vermittelt bekämen: "Über ihr Elternhaus, über Freizeit, über soziale Medien und über den allgemeinen politischen Diskurs, wie er halt in diesem Land gefahren wird." Viele Lehrer hätten das Problem erkannt - aber ihre Möglichkeiten seien begrenzt. "Wir können bedingt reparieren, aber wir können eben auch nicht das alles ausgleichen, was in der gesellschaftlichen Debatte ganz grundsätzlich schiefgeht", sagt Leschinski.
Statistisch fast jeden Tag ein Vorfall
Offizielle Zahlen, die das Phänomen präzise beschreiben, sind nicht zu bekommen. Aber man kann sich ihnen annähern: Die Landeszentrale für politische Bildung hat im noch laufenden Kalenderjahr 2024 in bereits 152 Fällen Beratungsangebote an Schulen unterbreitet, nachdem diese Vorfälle gemeldet hatten. Dabei handelte es sich ausschließlich um Beratungen zu rechtsradikalen Vorfällen. Statistisch bedeutet dies, dass an fast jedem Schultag (die Ferien sind herausgerechnet) ein Beratungsangebot erfolgte. Die Zahl der tatsächlichen Vorfälle dürfte höher liegen.
Dass rechtsradikale Positionen unter Jugendlichen nicht in Chatgruppen oder Klassenräumen bleiben, zeigte sich unter anderem auch in Wismar. Im September mobilisierten Neonazis gegen den ersten CSD in der Stadt. Unter den Teilnehmern der Gegenaktion waren auch hier auffallend viele augenscheinlich Minderjährige. Manche trugen Pullis von Nazibands und kleideten sich im Stil der Skinheads der 90er Jahre. Polizisten schirmten die Neonazis von der CSD-Parade ab, mehr als Parolen geschah an diesem Tag nicht.
Experte: Kern einer neuen Nazi-Jugendkultur
Sozialwissenschaftler David Begrich beobachtet die Szene der jungen Neonazis sehr genau. "Diejenigen, die wir im vergangenen Sommer auf der Straße gesehen haben, waren eine neue Generation, die sich sicher auch als so etwas wie ein Kern für eine neue neonazistische Jugendkultur verstehen", sagt er.
Neu sei auch, dass die junge Szene "bisher weitgehend ohne Szenehierarchien auskommt", sagt Begrich. Sie vernetze sich dezentral - und nutze für die Eigenwerbung stark die Möglichkeiten, die ihnen soziale Medien böten. Derzeit befinde sich die Jugendkultur noch in einer Entstehungsphase, in der noch viel Fluktuation herrsche. Ob sie sich als Bewegung verfestigen wird, könne man noch nicht sicher sagen, sagt Begrich.