Forscher kritisiert ÖPNV-"Blindflug" bei der Verkehrswende
Um die Klimaziele zu erreichen, muss der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) nach Meinung von Experten erheblich ausgebaut werden. Doch selbst wenn mehr Busse fahren, werden sie nicht automatisch benutzt. In Norddeutschland erfüllt der ÖPNV in weiten Teilen Norddeutschlands nicht die Funktion eines Pkw-Ersatzes. Der Verkehrsforscher Andreas Knie kritisiert im Gespräch mit Panorama 3: "Wir sind im öffentlichen Verkehr datentechnisch im Blindflug unterwegs."
Wie passt der Fokus auf Klimaschutz und CO2-armer Mobilität im Zuge der angestrebten Verkehrswende mit zunehmenden Pkw-Zulassungen zusammen? Diese und weitere Fragen zum Thema hat Andreas Knie, Verkehrsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, im Interview mit dem NDR Politikmagazin Panorama 3 beantwortet.
Herr Knie, weiß man in Deutschland genau, wie viele Menschen mit dem ÖPNV transportiert werden?
Andreas Knie: Bundesweit wissen wir im Moment tatsächlich nicht, wie viel Kunden und Kundinnen wir im ÖPNV haben. Es gibt geschätzte Zahlen, anhand von Aboverkäufen oder Tageskarten. Wie viele Menschen jetzt tatsächlich mit wie vielen Fahrten in Bussen und Bahnen unterwegs sind, wissen wir nicht.
Und was bedeutet das?
Knie: Dass wir blind sind. Dass wir nicht wissen, wo fahren denn jetzt Menschen. Subjektiv haben wir natürlich alle unseren Eindruck. Aber um wirklich bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln, müssten wir wissen, wo der Bedarf ist. Also wir sind wirklich im öffentlichen Verkehr im Blindflug unterwegs.
Viele Daten, auf deren Basis öffentlich über den ÖPNV diskutiert wird, stammen aus Ballungszentren. Wenn wir uns jetzt den ÖPNV in den ländlichen Räumen ansehen, was fällt Ihnen da auf?
Knie: Wenn wir die Daten, die wir haben, gerade im ländlichen Raum betrachten, dann fällt natürlich erst mal auf, dass nur sehr wenige Menschen überhaupt ÖPNV nutzen. Also ungefähr vier bis fünf Prozent der Wege auf dem Land werden mit dem ÖPNV zurückgelegt. Der Großteil der Fahrgäste sind außerdem Schüler und Auszubildende, in vielen Gegenden machen sie sogar 90 Prozent der Fahrgäste aus. Das sind zumindest die Zahlen, die ich kenne. Das heißt aber auch, die normalen Menschen oder wie es in der Verkehrswissenschaft heißt, der sogenannte Jedermannverkehr, findet im ländlichen Raum praktisch überhaupt nicht statt.
Wenn wir jetzt uns vor Augen führen, der Verkehrssektor steht vor der immensen Herausforderung in wenigen Jahren bis 2030 den Treibhausgasausstoß fast halbieren zu müssen, um das Bundesklimaschutzgesetz einzuhalten. Wie kann der Verkehr im ländlichen Raum in diesem Zusammenhang einen Beitrag leisten?
Knie: Also wir müssen einfach mal anerkennen, dass wir in einer Automobilgesellschaft leben. Und das ist auf dem Land noch mehr der Fall als in der Stadt. Wir sind in ländlichen Räumen wie Niedersachsen in manchen Kreisen bei 700 Autos pro 1000 Einwohner. Das heißt, statistisch gesehen hat jeder Fahrfähige mehr als zwei Autos zur Verfügung. Diese Menschen steigen nicht einfach in den Bus, wenn wir mehr Busse einsetzen würden. Das heißt, wir müssen uns generell darüber Gedanken machen, ob der Nahverkehr überhaupt noch mit Bussen und Bahnen zu betreiben ist oder ob wir nicht andere Möglichkeiten brauchen, den CO2-Ausstoß zu minimieren.
Allgemein ist doch immer die Rede davon, dass auf dem Land zu wenige Busse fahren. Stimmt das nicht?
Knie: Das ist genau die große Illusion, die wir in Deutschland haben. Da fahren bisher fünf Busse und jetzt gehen alle davon aus: Lassen wir doch sieben Busse fahren und wenn wir besser sein wollen, dann machen wir die elektrisch. Das hilft nichts. Auch der Bus, wenn er mal kommt und auch elektrisch ist, wird keine Fahrgäste befördern, weil diese Fahrgäste mit ihrem Leben ganz woanders sind. Wir brauchen also ein Angebot, was die Menschen von der Tür abholt und dorthin fährt, wo sie hin wollen. Das muss natürlich so sein, dass man dort Personen bündelt, also nicht jeden Einzelnen abholt. Das sind eben diese mittlerweile sehr populären On-Demand-Verkehre. Da kommt wirklich ein Auto. Wenn da schon zwei, drei Leute sitzen, da kommt noch ein Vierter und ein Fünfter dazu und dann fahren eben fünf Menschen in einem Auto, statt fünf Menschen in fünf Autos.
Das klingt sehr teuer. Wie soll das finanziert werden?
Knie: Na ja, teuer ist ja relativ. Also der Bus kostet ja auch jede Menge Geld. Also wir gehen davon aus, dass ein Kilometer in einem klassischen konventionellen Dieselautos etwa 3,50 Euro kostet. Also inklusive der Systemkosten. Das Taxi, was wir alle kennen, kostet aber nur 2,90 Euro. Das heißt also, die Subventionierung des Taxis auf einen ÖPNV-Tarif wäre sogar deutlich billiger als den Bus umherfahren zu lassen. Man lügt sich da immer in die Tasche, wenn man glaubt. Der Bus transportiert doch so viele Menschen, der kann auch 60, 70, 80 Menschen transportieren. Aber die tatsächlichen Auslastungszahlen, die wir kennen, zeigen, das tut er nicht. Und deshalb ist die Subventionierung des Dieselbusses im Moment viel, viel teurer als praktisch die Parole auszugeben: Fahrt doch alle Taxi!
Sie sagen also im ländlichen Raum sollen die Menschen Taxi fahren?
Knie: Ja. Denn mit Bussen und Bahnen werden wir die Leute nicht mehr erreichen. Im Moment fahren nur die Leute mit, die keine Alternative haben. Das sind die Schüler und Auszubildenden oder die Menschen, die keinen Führerschein haben. Das heißt also, wenn wir eine Verkehrswende haben wollen, wenn wir also die Leute aus ihren eigenen Autos herausbringen wollen, dann geht das nur durch das bessere Auto. Und das heißt, ich werde wie in meinem eigenen Auto dann abgeholt, wenn ich das möchte. Das ist der attraktive ÖPNV von morgen. Und der muss natürlich dann am Ende irgendwo ankommen, das heißt an einem großen Busbahnhof oder Bahnhof. Von da kann ich dann vielleicht zum nächsten Bahnhof fahren. Dann kann ich mit großen Gefäßen unterwegs sein.
Haben wir denn genug Taxis?
Knie: Stand heute hätten wir das nicht. Aber wenn der Bedarf groß ist, gehe ich davon aus, dass natürlich auch wieder mehr Taxen unterwegs sein werden.
Haben wir genug Fahrer für Taxen?
Knie: Das hängt tatsächlich von der Bezahlung ab. Wenn die Bezahlung besser wird, dann haben wir auch genug Fahrer. Aber wir leben auch da in einer Übergangsform. Wir werden in wenigen Jahren schon erleben, dass Teile dieses ländlichen Raums dann auch von Autos bedient werden, die gar keine Fahrer mehr haben. Also das berühmt berüchtigte Roboter-Taxi, was in den USA und in China schon wirklich alltägliche Fahrten macht. Das wird natürlich auch sehr schnell und zügiger als uns möglicherweise lieb ist dann auch in Deutschland eingeführt.
Wo sollten denn Ihrer Meinung nach noch Busse fahren?
Knie: Und da empfehlen wir ausschließlich, sich auf den Schülerverkehr zu konzentrieren. Das sind noch die Zwangsverkehre, die müssen noch morgens an die Haltestelle und werden dann auch von der Schule wieder an die Haltestelle zurückgebracht. Der Rest muss flexibel organisiert sein.
Das Interview führte Nils Naber, Panorama 3.