Sendedatum: 13.03.2018 21:15 Uhr

Flüchtlinge kommen von Skandinavien nach Deutschland

von Mariam Noori

"Dieser neue Ort ändert unser gesamtes Leben", sagt Eshaq Rahimi. "Hier haben wir Ruhe und Frieden und ich weiß, dass meine Kinder am Leben bleiben." Eshaq Rahimi atmet erleichtert auf, seine Tochter Mahnaz blickt zu ihm hoch und macht es ihm nach. Die Familie aus Afghanistan darf in Deutschland bleiben. Eigentlich hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschieden, dass Norwegen zuständig ist, denn dort hatte die Familie bereits einen Asylantrag gestellt. Nach einem Jahr dort sollten sie nun aber abgeschoben werden, von Norwegen nach Afghanistan. Am Ende erhält die Familie eine Aufenthaltserlaubnis. In Deutschland. Was ist passiert?

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Die Lücken im System

"Wir haben unsere Freunde wegen Dublin III gefragt", sagt Eshaq Rahimi. "Wir sind dann für ein paar Monate ins Kirchenasyl gegangen." Kirchenasyl ist ein möglicher Weg ein neues Asylverfahren in Deutschland zu erwirken. Mit dem Aufenthalt im Kirchenasyl können gleichzeitig wichtige Fristen verstreichen: Maximal drei Monate hat das BAMF Zeit einen sogenannten Übernahmeersuch an z.B. Norwegen zu stellen. Im Fall von Familie Rahimi muss nach der Zustimmung Norwegens eine Abschiebung zurück nach Skandinavien innerhalb von sechs Monaten erfolgen. Doch verstreicht eine der beiden Fristen, geht die Zuständigkeit für den Flüchtling auf Deutschland über. Ein zweites Asylverfahren kann nun in Deutschland angestrengt werden.

Dublin III

Das Abkommen regelt, dass nur ein europäisches Mitgliedsstaat für das Asylverfahren des Schutzsuchenden zuständig ist und zwar das Land, in dem die Person offiziell zuerst die Europäische Union betreten hat. Das soll mehrfache Asylanträge verhindern, aber auch, dass zuständige Länder Flüchtlinge einfach weiterschieben.

Nach Recherchen von Panorama 3 wurden seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 im vergangenen Jahr die meisten Dublin III-Verfahren in Deutschland eingeleitet. 21% der Asylerstanträge wurden von Flüchtlingen gestellt, für die ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig war. 2016 waren es nur 5%.

Nur ein Bruchteil wird zurück in die zuständigen EU-Länder rücküberstellt. 2017 hat das BAMF 64.267 Dublin-Verfahren eingeleitet, davon 41.533 "Take-Backs". Am Ende wurden nur 7.102 Personen überstellt. Das bedeutet: Viele rutschen durch die Lücken des Systems und bekommen hier offenbar ein neues Asylverfahren.

Die Gebäude und Hinweis-Schilder des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf dem Areal der Einrichtung in Trier (Rheinland-Pfalz). © dpa bildfunk Foto: Frederik von Erichsen
Die Rücküberstellungen an zuständige europäische Länder sind im Vergleich zu den eingeleiteten Dublin III-Verfahren verschwindend gering.

Das BAMF räumt in Einzelfällen Fristversäumnisse ein. Die genaue Anzahl bleibt unbekannt. Neben dem Kirchenasyl gibt es weitere Möglichkeiten wichtige Fristen auszuhebeln. Andere haben gegen die Ablehnungsbescheide des Dublin III-Verfahrens geklagt oder sind untergetaucht.

Insbesondere aber sind die Zahlen der Rücküberstellungen an zuständige europäische Länder niedrig. In vielen Fällen scheint so die Zuständigkeit an Deutschland übergegangen zu sein. "Dazu existiert derzeit keine Statistik", erklärte das BAMF auf Anfrage. Es fehlen statistische Erhebungen, die konkrete Rückschlüsse für die seit Jahren anhaltend schlechte Überstellungsquote geben. Diese könnten aber dabei helfen, das Dublin III-System zu verbessern oder mehr in Frage zu stellen. Auf Anfrage erklärt das BAMF, dass es künftig diese Fälle ausweisen werde. Zudem erklärt das BAMF, dass die Einhaltung der Überstellungsfrist "von vielen externen Faktoren" abhänge, auf die das Bundesamt "wenig oder gar keinen Einfluss hat".

Gründe für Überstellungshindernisse 2017

1. Klage mit Eilantrag: 25.997 Personen stellten einen Eilantrag. Während des laufenden Eilantrags, darf nicht abgeschoben werden.
2. Kirchenasyl: 2.036 Personen wurden dem Bundesamt als Kirchenasyl gemeldet.
3. Abgebrochene Abschiebungen: Beispielsweise Reiseunfähigkeit aufgrund von Krankheit führt dazu, dass Abschiebungen nicht vollzogen werden können. Dazu werden keine Zahlen erhoben.
4. Untertauchen: Manche Flüchtlinge tauchen aus Angst unter, was zu einer Fristverlängerung von 18 Monaten führt. Auch dazu fehlen konkrete Angaben.

Irrfahrt durch Europa

Wir begleiten eine Großkontrolle an der deutsch-dänischen Grenze. "Der Trend illegaler Migration aus skandinavischen Staaten von abgelehnten Migranten hält weiter an", so der Sprecher der Bundespolizei Matthias Menge. Der Anstieg für 2017 lag bei etwa 30%. Dabei handelt es sich nur um Feststellungen durch polizeiliche Kontrollen. Auch hier treffen wir Flüchtlinge aus Skandinavien, die dort abgelehnt wurden und in Deutschland auf eine zweite Chance hoffen.

Europäische Asyllotterie?

Nachdem die Fristen bei Familie Rahimi verstrichen sind, kam ein Schreiben: "Wir sind aus dem Dublin III Verfahren raus", sagt Eshaq Rahimi. "Jeder Mensch, dessen Leben bedroht ist, der wird flüchten, um sich zu schützen", sagt Rahimi. "Wir hatten eine Chance". Die Gesamtschutzquote für Afghanen ist während Familie Rahimis Aufenthalt in Norwegen rapide gesunken: Von 44% (2015) auf 24% (2016). Im selben Jahr liegt sie in Deutschland noch bei 56% (2016).

Illegale Einreisen aus Skandinavien

2016: 2.174
2017: 2.808
Fast alle kamen über die deutsch-dänische Grenze. Sie kommen aus Afghanistan, Irak und Syrien.

Trotz eines gemeinsamen europäischen Asylsystems variieren die Anerkennungsquoten stark. Eine europäische Asyllotterie, in der die einen gewinnen, die anderen verlieren. Was passiert mit den Verlierern dieses Systems? Sie kommen aus Kriegs- und Krisengebieten – sind sie wirklich bereit zurückzugehen? "Wenn man uns hier keine Chance gegeben hätte, wenn uns die Kirche nicht aufgenommen hätte, wir hätten weiterziehen müssen, nach Frankreich oder Italien", sagt Eshaq Rahimi. "Zurück nach Afghanistan – das war nie eine Option."

Weitere Informationen
Waled (r.) mit seinen Geschwistern © NDR Foto: Screenshot

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 13.03.2018 | 21:15 Uhr

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