Ausgleichsflächen: Hamburg zerstört eigenes Naturschutzgebiet
Erst im Februar hatte Hamburg einen Wald, der sich 60 Jahre ohne menschlichen Einfluss entwickeln konnte, als Naturschutzgebiet ausgewiesen: die Vollhöfner Weiden. Doch kurz bevor diese Ausweisung offiziell wurde, ließ die Stadt Hunderte Bäume fällen.
Wenige Tage nach diesem Kahlschlag trat die Verordnung für das Naturschutzgebiet im Hamburger Süden in Kraft. Die Stadt wollte jetzt noch den wertvollen Waldboden aus dem Gebiet abfahren, um stattdessen trockenen Sand auf die Fläche aufzubringen und dort Gräser einzusäen.
Der Grund: Im Hamburger Hafengebiet soll eine Fläche mit sogenanntem Trockenrasen demnächst bebaut und der Boden damit versiegelt werden. Nach dem Bundesnaturschutzgesetz muss aber, wo gebaut und Natur versiegelt wird, an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen werden. Die Waldvernichtung wurde also als Ausgleichsmaßnahme deklariert.
Intakte Natur zerstört, um zerstörte Natur zu kompensieren
Für den BUND ist so ein Vorgehen kein Einzelfall. Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 52 Hektar für Siedlungs- und Verkehrsprojekte neu versiegelt, sagt Gisela Bertram von der Naturschutzorganisation. Bei einem solchen Versiegelungstempo gebe es immer weniger Flächen in der Nähe, die für den gesetzlich notwendigen Ausgleich geeignet seien. Städte und Kommunen würden daher dazu übergehen, bestehende Natur zu verändern, statt versiegelte Flächen zu renaturieren - und das dann als "Aufwertung" und als Kompensation für den Verlust an anderer Stelle werten.
Die Umweltschützer des BUND sieht diesen Trend höchst kritisch. Die Natur könne nicht auf immer weniger Fläche geschützt werden. Ausgleichsmaßnahmen müssten der Natur neue Flächen zur Verfügung stellen. Bertram zum Beispiel hat für eine Stiftung auf einer alten Obstwiese zusätzlich einen Tümpel angelegt. Nach sieben Jahren taucht dort in diesem Jahr zum ersten Mal der stark vom Aussterben bedrohte Moorfrosch auf, den die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde 2025 zum Lurch des Jahres kürte.
Naturschutzverein will Waldboden erhalten
In den Vollhöfner Weiden lebten zahlreiche vom Aussterben bedrohte Tierarten, die auf besondere Waldränder mit viel Totholz angewiesen sind. Daher reichte der Naturschutzverein Schlickfall e.V. einen Eilantrag beim Hamburger Verwaltungsgericht ein, um zu verhindern, dass nach dem Kahlschlag der Waldboden abtransportiert wird.
Mit Erfolg: Weitere Maßnahmen der Stadt Hamburg würden gegen die eigene Naturschutz-Verordnung verstoßen, entschied das Gericht. Es sei unter anderem verboten, Pflanzen oder einzelne Teile von ihnen auszureißen, auszugraben oder zu entfernen und den Boden zu verändern. Der Waldboden dürfe nicht abgefahren werden, da er noch Baumstümpfe enthalte, die wieder ausschlagen könnten.
Stadt verteidigt den Kahlschlag zunächst

Gegenüber dem Gericht argumentierte die Umweltbehörde, man habe mit der Ansiedlung von Trockenrasen unter anderem der vom Aussterben bedrohten Zwergschaumzikade einen Lebensraum bieten wollen. Dem folgte das Gericht nicht. In der Verordnung zum Naturschutzgebiet sei der Schutz von Tieren, die Trockenrasen benötigen, nicht aufgeführt. Stattdessen sollten Arten geschützt werden, die ebenfalls vom Aussterben bedroht seien und auf Waldränder angewiesen sind.
In den Vollhöfner Weiden lebt zum Beispiel der Schillerfalter, der auf der Hamburger Roten Liste in der Kategorie 1 steht, also als stark vom Aussterben bedroht gilt. Seine Raupen benötigen als Nahrungsquelle Sal-Weiden, die nach NDR Informationen durch den Kahlschlag im Naturschutzgebiet entfernt wurden.
Im Wald wurden auch zwei Käferarten nachgewiesen, die zu den sogenannten "Urwaldrelikt-Arten" gehören, den bundesweit anspruchsvollsten Totholzbewohnern. Auch ihr potenzieller Lebensraum wurde durch den Kahlschlag kleiner.
Hamburg akzeptiert Gerichtsbeschluss
Laut Hamburger Umweltbehörde soll der Ursprungszustand der Fläche möglichst wieder hergestellt werden. Doch mehr als 20 Jahre alte Bäume lassen sich nicht einfach ersetzen. Wer in einem Naturschutzgebiet Bäume entfernt, muss eigentlich laut Bußgeldkatalog eine Strafe zwischen 50 und 50.000 Euro zahlen. Doch nach den Recherchen des NDR droht der Umweltbehörde keine Strafe. Sie müsste diese ja gegen sich selbst verhängen - und das hat sie bislang nicht vor.
