Stand: 10.04.2025 21:45 Uhr

Eine Liebe in Afghanistan: Von Deutschland verraten (Manuskript)

Panorama v. 10.04.2025
Eine Liebe in Afghanistan: von Deutschland verraten

Anmoderation Anja Reschke: "Es ist vollbracht, Union und SPD haben sich geeinigt, der Koalitionsvertrag steht. Der zukünftige Kanzler Merz sagte gestern: Die Politische Mitte ist in der Lage, die Probleme zu lösen. Will heißen, ihr braucht nicht die AfD wählen, wir können das besser. Etwa beim Hauptthema des Wahlkampfs: Der Migration. Die soll jetzt gesteuert, geordnet, beendet werden hieß es. Da ist von Grenzkontrollen die Rede und Zurückweisungen, von sicheren Herkunftsländern und Aussetzen des Familiennachzugs. All das, was in den letzten 10 Jahren ohnehin ständig verschärft wurde. Die AfD ist trotzdem stärker geworden. Und noch eine Maßnahme wurde genannt, die bei den meisten vermutlich eher durchgerauscht ist: Die freiwilligen Aufnahmeprogramme werden beendet. Das klingt nach Durchgreifen und "endlich Entlastung". Wird aber keinem Landrat helfen, seine Notunterkünfte leer zu bekommen. Denn es geht um sehr wenige Menschen, maximal 12.000 im Jahr. Es ist Symbolpolitik. Auf dem Rücken von Menschen, die uns vertraut haben. Die an Recht und Demokratie geglaubt haben. Denen wir versprochen haben, sie nicht im Stich zu lassen. Armin Ghassim."

Das sind Khadija und Mohsen. Ein junges afghanisches Ehepaar, das auch zusammen arbeitet - als Kamerateam. So lernten wir sie kennen. Mit uns drehten sie vor drei Jahren eine Dokumentation in Afghanistan. Ehemann Mohsen machte die Kamera. Seine Frau Khadija steuerte die Drohne. Die Taliban ließen sich erstaunlicherweise drehen. Sie waren frisch an die Macht gekommen, darum sollte es im Film gehen. Khadija musste sich allerdings vor den neuen Machthabern streng verhüllen. Immerhin durfte sie für uns weiter ihren Job machen. Sie steuerte die Drohne. Die Taliban staunten. Für Khadija war die Nähe zu den verhassten Taliban schwer zu ertragen, wie sie später erzählte. Denn Mohsen und Khadija lebten nicht so, wie sich das Islamisten vorstellen. 3 Wochen war ich mit ihnen im Land unterwegs. Zu dieser Zeit konnten wir in Kabul noch zusammen Shisha rauchen. Auf unseren Reisen durchs Land herrschte gute Stimmung. Auch bei Khadija.

O-Ton Khadija: "Hey, Film nicht meinen Teller, meine Mutter soll nicht sehen, dass ich nicht aufgegessen habe."

Nach 3 Wochen verließ ich Afghanistan. Khadija und Mohsen blieben zurück. Schon in den Monaten nach unserem Film verändert sich die Politik der Taliban. Khadija kann die Jeans nur noch versteckt unter einem Schleier tragen. Auch Mohsen muss sein Äußeres verändern. Er erinnert sich.

O-Ton Mohsen: "Man musste sich Ihnen anpassen, den Bart stehen lassen und traditionelle Kleidung tragen. Die Taliban wurden Schritt für Schritt repressiver. Universitäten wurden geschlossen. Mädchen durften nur noch bis zur vierten Klasse in die Schule. Sie nahmen Leute fest. Medien wurden zensiert."

Doch Khadija und Mohsen kämpfen weiter für eine freie Gesellschaft, auch mit internationalen Organisationen. Sie sind künstlerische Aktivisten für Freiheit, Frauen und Minderheiten. Das hier ist eines von Khadijas Bildern - Ihr eigenes Gesicht gezeichnet aus Aufrufen für Frauenrechte, Freiheit - und Kritik an den Taliban. Dafür bekommt sie viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien. Für Islamisten ist sie ein Dorn im Auge. Sie und Mohsen gehören außerdem der Minderheit der Hazara an, die von Islamisten verachtet wird. Die beiden spüren immer mehr: Sie müssen das Land verlassen. Und tatsächlich: Die Chancen stehen gut. Denn Deutsche Spitzenpolitiker setzten sich für die Aufnahme solch gefährdeter Afghanen ein:

O-Ton Markus Söder (19.08.2021): "Wir sind natürlich auch dafür, dass man die Gruppe der zu schützenden Personen neben den Ortskräften erweitert: Frauenrechtlerinnen, Bürgeraktivisten, Journalisten und Vertreter für Menschenrechte. Es ist ganz wichtig in dieser Situation zu helfen und dabei zu sein."

Im Oktober 2022 startet tatsächlich das "Bundesaufnahmeprogramm". Besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sollen aufgenommen werden. Bis zu 12.000 pro Jahr. Es geht dabei nicht um Ortskräfte, die für Deutschland gearbeitet haben, sondern um Menschenrechtler, Journalistinnen, Künstlerinnen, die sich für Demokratie eingesetzt haben. Khadija und Mohsen beantragen die Aufnahme in Deutschland. Damit beginnt ein langwieriges Verfahren - jetzt heißt es: warten. Doch lange passiert gar nichts. In Deutschland dreht sich derweil die Stimmung gegen Geflüchtete und Einwanderer. Auch die Ampel will nun vor allem "im großen Stil abschieben".

Nach 6 Monaten Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan gibt es noch keine einzige Zusage. Die Bundesregierung scheint an ihrem Versprechen zu scheitern. Nach einem Jahr bietet das Aufnahmeprogramm nur 13 Afghanen Schutz. 13 statt 12.000. 

O-Ton Mohsen: "Wir hatten die Hoffnung aufgegeben. Ein Jahr Warten ist wirklich sehr viel."

Weiter quälendes Warten. Auch nach 14 Monaten hoffen sie immer noch auf eine Zusage aus Deutschland. Währenddessen erschüttern mehrere Anschläge ihren Stadtteil - die Anschläge der Islamisten gelten der Minderheit der Hazara. Zu der auch sie gehören. Dann der 06. Januar 2024. Auf dieser Straße ist Khadija gerade auf dem Weg nach Hause von ihrem Englisch-Kurs. Da detoniert eine Bombe, mutmaßlich gelegt von Islamisten des IS in Afghanistan. Mohsen behält noch die Ruhe.

O-Ton Mohsen: "Meine Mutter rief an und fragte wo bist du, ich sagte ich komme gerade aus dem Gym. Sie sagte es gab wieder eine Explosion in unserem Stadtteil. Ich fuhr gerade vorbei und sah einen abgebrannten Bus. Sie waren noch am Löschen. Aber da Khadija eigentlich nie mit dem Bus fuhr, dachte ich nur, dass sie vielleicht in einem Auto in der Nähe war und im schlimmsten Fall verletzt war. Ich dachte nicht, dass es wirklich passiert ist."

Doch es ist passiert. Khadija stirbt noch am Anschlagsort.

O-Ton Mohsen: "Wenn die Antwort früher gekommen wäre. Dann wäre vielleicht alles anders gelaufen. Dann könnte sie noch leben. Ich weiß es nicht."

Warum dauert es so lange? Warum sind bisher so wenige gekommen? Statt der geplanten 19.000 nur knapp 500 Menschen. Wir fragen die Bundesinnenministerin.

O-Ton Nancy Faeser, Bundesinnenministerin (21.06.2024): "Jetzt über das Bundesaufnahmeprogramm, speziell. Das stimmt. Da sind nicht so viele gekommen wie gedacht. Da geht es aber auch darum, dass die Menschen einer Sicherheitsüberprüfung unterliegen, und danach wird nach Sicherheitslage entscheiden. Ich verantworte die Sicherheitslage in Deutschland, deswegen hat es für mich Priorität."

Und dann passiert es doch noch: Mohsen bekommt den Aufnahmebescheid aus Deutschland. Er wird als gefährdet eingestuft und soll in Deutschland aufgenommen werden. Zuerst soll er nach Pakistan reisen und dort auf einen Termin in der deutschen Botschaft in Islamabad warten. Die Unterkunft wird Deutschland bezahlen. Es ist der 27. August 2024. Mohsens letzter Abend in Afghanistan. Für uns dreht er seine letzten Stunden in der Heimat. Ein letztes Mal am Grab seiner Frau. Mohsen nimmt Abschied.

O-Ton Mohsen (27.08.2024): "Als ich an Khadijas Grab war habe ich meine Eltern weggeschickt um ein paar Minuten alleine zu sein. Und dann, kurz gesagt, habe ich mich verabschiedet. Und habe darüber gesprochen, wann ich wohl wieder komme, wer sich bis dahin um ihr Grab kümmert."

Mehr als 1 ½ Jahre nach dem Antrag für das Bundesaufnahmeprogramm kann Mohsen Afghanistan verlassen.

O-Ton Mohsen: "Morgen um 2 Uhr mittags geht es los. Um ehrlich zu sein, es ist ein komisches Gefühl. Alles hier zurückzulassen. Vor allem die Familie. ….. Aber es gibt keinen anderen Weg. Wenn wir unsere Heimat verlassen, dann lassen wir alles zurück: Erinnerungen, Familie, Freunde, den Ort, an dem ich groß geworden bin, an dem ich studiert habe, mit Freunden gespielt habe. All das bleibt in Afghanistan zurück. Das vergisst man nie. Weine nicht Mama."

Ankunft in Pakistan, hier geht das Warten für Mohsen weiter. Gut 3.000 weitere Afghanen hier haben bereits eine Zusage, müssen aber auf einen Termin in der deutschen Botschaft warten, auch Mohsen. Der "Termin" ist nicht bloß Formsache:

Die Afghanen mit Zusage werden in Pakistan noch einmal intensiv durchleuchtet. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das BKA, der Verfassungsschutz und die Bundespolizei prüfen die Identität, die Vergangenheit, die Pässe, selbst die Handys der Menschen. Schließlich muss jede Person noch durch ein Sicherheitsinterview, das mehrere Stunden dauert.

Auch nach der Überprüfung warten viele Afghanen nochmal monatelang auf das Ergebnis. Mohsen nutzt die Zeit und lernt seine ersten Sätze Deutsch.

O-Ton Mohsen: "Hallo, guten Tag. Ich bin Mohsen. Ich versuche ein bisschen Deutsch sprechen. Ich möchte ein Video über meine täglich Routine in Islamabad."

Inzwischen hat er weitere vier Monate in Islamabad gewartet, weiß immer noch nicht, was sein Status ist. Ein Leben auf gepackten Koffern. Ende 2024. Ein weiteres Jahr ist vergangen, das erste Silvester ohne seine Frau Khadija. Das neue Jahr soll ein besseres werden. In Deutschland ist inzwischen Wahlkampf. Das Thema Migration rückt in den Mittelpunkt, auch aufgrund von Gewaltverbrechen wie in Aschaffenburg.

Nachrichten Tagesthemen: "Dort tötete heute Vormittag ein 28jähriger Afghane einen kleinen Jungen und einen Mann mit einem Messer."

Nachrichten: "In München ist am Vormittag ein Mann mit einem Auto in eine Menschenmenge gefahren. Der Fahrer wurde überwältigt. Er stammt aus Afghanistan."

Die Anschläge erschüttern die deutsche Gesellschaft. Bei den Afghaninnen und Afghanen in Islamabad lösen sie Scham und Angst aus.

O-Ton Mohsen: "Wenn man hört, dass der Täter Afghane ist, dann schämt man sich. Und fragt sich, warum ein Afghane so etwas getan hat. Die Leute hier haben Angst, dass nach der Wahl in Deutschland das ganze Programm gestoppt wird und dass Leute wie ich, die bereits den ganzen Prozess durchlaufen haben, auch nicht mehr einreisen dürfen."

Tatsächlich attackiert Kanzlerkandidat Merz nun das Aufnahmeprogramm für Afghanistan ganz direkt.

O-Ton Friedrich Merz, CDU, im Quadrell 16.02.2025: "Nehmen wir jetzt mal ein Land, Afghanistan. Die deutsche Bundesregierung ist die einzige in ganz Europa, die aus Afghanistan immer noch Flüchtlinge nach Deutschland holt. Teilweise mit Nicht-Regierungsorganisationen über das Auswärtige Amt von Frau Baerbock praktisch ohne Kontrolle."

Ohne Kontrolle? Zur Erinnerung: An der Überprüfung sind BAMF, BKA, Verfassungsschutz und Bundespolizei beteiligt. Nur sehr wenige der fast 3000 Wartenden kommen tatsächlich nach Deutschland. Und wenn mal ein Flugzeug landet, dann läuft die BILD sturm.

BILD-Schlagzeilen:
"Am Mittwoch landet der nächste Afghanen-Flieger." (02.03.2023)

"Stoppt diesen Wahnsinn!" (02.03.2023)

"Flieger mit afghanischen Flüchtlingen gelandet!" (05.03.2023)

Auch CSU-Chef Söder feuert nun gegen jede Aufnahme von Menschen aus Afghanistan.

O-Ton Markus Söder, CSU (Politischer Aschermittwoch, 05.03.): "Ja sagte mal, was soll denn das eigentlich? Nach der Wahl schon den zweiten Flug! Das muss gestoppt werden! Und zwar jetzt, liebe Freundinnen und Freunde! Täter raus, aber doch nicht neue rein!"

"Täter raus, aber keine neuen rein". Menschen wie Mohsen werden nun zu potenziellen Tätern erklärt.

O-Ton Mohsen: "Wenn ich sowas höre, dass wir alle durch diese Brille gesehen werden, macht mich das traurig. Wir wollen nicht, dass wegen einzelnen Personen alle anderen verbannt werden und das Aufnahmeprogramm beendet wird.

Gestern dann die Koalitionsvereinbarungen:

O-Ton Friedrich Merz, CDU: "Wir werden einen neuen Kurs in der Migrationspolitik einschlagen. Wir werden das Ende der freiwilligen Aufnahmeprogramme vornehmen."

Das Programm ist geschlossen, die Solidaritätsbekundungen gelten nicht mehr. Aber was wird aus den rund 2800 Afghanen, die mit Zusage in Islamabad warten? Wird Deutschland auch diese Zusage brechen? Eine klare Antwort bleibt schwarz-rot auf Nachfrage schuldig.

Beitrag: Armin Ghassim
Mitarbeit: Timo Robben
Kamera: Mohsen Qiasi, Khadija Panahi
Grafik: Kristy Busemann
Schnitt: Jan Westphal

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Das Erste | Panorama | 10.04.2025 | 21:45 Uhr

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