Sterbehilfe: endlich Klarheit nach neuem Urteil? (Manuskript)
Manuskript des Panorama-Beitrags vom 26.10.2023
Anmoderation Anja Reschke: "Seit über 5 Jahren begleiten wir Harald Meyer und berichten über seinen Kampf für selbstbestimmtes Sterben. Harald Meyer hat Multiple Sklerose und kann nur noch den Kopf bewegen. So sah er aus, als wir ihn das erste Mal trafen, im Mai 2018. Da konnte er immerhin noch seinen kleinen Finger bewegen. Das ist Harald Meyer heute. Die 5 Jahre haben an ihm gezehrt. Aber es ist nicht nur die Krankheit, nicht sein unermüdlicher Einsatz für ein Sterbehilfegesetz. Es ist der tägliche bürokratische Kleinkrieg, der zermürbt. In den vielen Gesprächen, die meine Kollegin Tina Soliman über die Jahre mit Harald Meyer geführt hat, wurde immer klarer: Eigentlich geht es ihm nicht ums Sterben. Eigentlich geht es ihm ums Leben."
Heute Morgen in Leipzig: Harald Mayer gegen die Bundesrepublik Deutschland. Er fordert vom Staat ein Mittel, um sich umzubringen zu können. Natrium-Pentobarbital. Gleich beginnt die Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Harald Mayer: "Wenn ich wüsst, das ich da einen Albtraum beenden kann, das ist meine Vorstellung, solange wird gekämpft.“
Über fünf Jahre begleiten wir Harald Mayer nun schon. Seit Jahrzehnten lebt er mit der Diagnose Multiple Sklerose. Der ehemalige Feuerwehrmann kann sich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen. Trotzdem versucht er, das Beste aus seiner Situation zu machen, erfüllt sich sogar den Traum vom Fliegen, versucht, noch am Leben teilzuhaben. Glücksmomente wie diese gehören dazu. Wenn das aber nicht mehr ginge, will er sterben dürfen, mit dem Mittel seiner Wahl: Natrium-Pentobarbital. Dafür kämpft er - fährt sogar bis Berlin.
Harald Mayer: "Erst einmal würde ich es nicht nehmen wollen. Es ist zwar perspektivarm, mein Leben aber nicht leer. Man muss es ja nicht gleich runterstürzen. Man kann sich ja Zeit lassen. Man wird das machen, dann, wenn es nicht mehr geht."
Für das Mittel braucht Harald Mayer die Genehmigung des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte. Einer Unterbehörde des Bundesgesundheitsministeriums. Doch die verweigert die Herausgabe des Mittels. Dabei ist Sterbehilfe in Deutschland erlaubt. Die Abgeordneten der großen Parteien wollen sie zwar einschränken, können sich aber seit Jahren auf eine Neuregelung nicht einigen. Das Ziel der Abgeordneten: Teilhabe statt Sterbehilfe. Vor allem dem SPD-Abgeordneten Lars Castellucci ist das wichtig. Er will Teilhabe am Leben fördern - Sterbehilfe dafür massiv einschränken.
Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter: "Niemand in diesem Land soll sich gedrängt fühlen, in einen assistierten Suizid hinein, weil andere Hilfe nicht erreichbar ist. Bin ich im Alter oder in Krankheit gut versorgt? Kann ich mir das alles noch leisten? Das sind doch Fragen, die hinter Suizidgedanken stecken!! Und auf diese Fragen müssen wir sozial- und gesundheitspolitische Antworten geben." (Suiziddebatte, KW27/2./3: Lesung.)
Harald Mayer: "Heiße Luft. Castellucci spricht da von Teilhabe, die aber wirklich nicht gegeben ist. Ich könnte mich darüber ärgern wie verrückt. Die Teilhabe muss man sich an allen Ecken und Kanten erkämpfen."
Vanessa Evren hat Harald zwei Jahre lang als sogenannte Assistenzkraft begleitet. In dieser Zeit erlebt sie hautnah mit, wie sehr ihm der Alltag erschwert wird, etwa wenn es um Hilfsmittel geht.
Vanessa Evren, Assistenzkraft: "In der Praxis ist es so, dass, wenn ein Rollstuhl nicht bewilligt wird, dass das ganze Leben still liegt."
Tatsächlich kämpft Harald Mayer seit Jahren bei der Krankenkasse um einen besseren Rollstuhl, einen wie diesen, der ihn auch auf Augenhöhe hochfahren kann - der ihm ein bisschen Normalität zurückgibt - und damit ein würdigeres Leben.
Harald Mayer: "Der Rollstuhl ist mein Leben. Ohne Rollstuhl bin ich nichts. Das sind meine Arme, meine Beine, meine Füße."
Panorama: "Und warum ist es auch so wichtig für dich, auf Augenhöhe zu kommunizieren?"
Harald Mayer: "Ja, ist doch klar, man ist im Gespräch. Wenn man unten im Rollstuhl sitzt, die Leute beugen sich zweimal runter. Dann ist das Gespräch beendet."
Vanessa Evren: "Das ist kein Luxus. Ich möchte mal jemanden sehen, der 48 Stunden, sein ganzes Leben, nur auf 30 Zentimeter verbringt und nach oben schaut. Man fühlt sich eh schon herabgewürdigt und nicht gesehen, und dann macht man die Menschen noch unsichtbarer. Kleiner."
Mag sein, erklärt die Techniker-Krankenkasse uns schriftlich, doch bezahlen wollen sie einen Rollstuhl mit Hubfunktion nicht. Zitat: Das Bedürfnis, auf Augenhöhe zu kommunizieren, können wir nachvollziehen, es fällt aber nicht in unsere Leistungspflicht. Und weiter: Ein Rollstuhl mit Hubfunktion böte ihm keinen Gebrauchsvorteil. "Eine medizinische Indikation für die Hubfunktion am Rollstuhl besteht jedoch nicht mehr, da Herr Mayer … aufgrund der fortschreitenden Erkrankung den … Gebrauchsvorteil durch die Hubfunktion nicht mehr nutzen kann."
Harald Mayer: "Natürlich kann ich die nutzen. Da wollen sie einem nichts genehmigen, was mir das Leben leichter machen würde. Das ist doch paradox. Teilhabe nennen die das - und genehmigen dann nichts."
Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter: "Wir wollen Inklusion, wir wollen Teilhabe. Und das ist eine Daueraufgabe, der wir uns hier im Parlament stellen."
Panorama: "Aber Sie sind ja in der Regierung, Sie könnten ja dafür sorgen, dass diese Teilhabe ermöglicht wird."
Lars Castellucci: "Ja. Unbedingt. Ich kann aber auch sagen, dass, was wir hier jetzt tun, wird nicht morgen bei den Menschen ankommen. Es ist etwas, wo wir ihnen auch in gewisser Weise nicht gerecht werden können. Das gehört zum Schicksal auch von Politik dazu. Möglicherweise dauern unsere Prozesse auch zu lange und nützen dann erst wieder Nachkommenden."
Der Gegenvorschlag: Harald Mayer bekommt ein gebrauchtes Kassenmodell, oder er muss eben weiter mit dem alten Rollstuhl klarkommen. Der ist an allen Ecken und Enden geflickt und mit einem Holzpflock passend gemacht. Zuletzt musste er zwei Monate lang im Bett liegen, weil sein Rollstuhl endgültig zusammenbrach.
Vanessa Evren, Assistenzkraft: "Harald darf nicht leben. Er darf vegetieren. Und ich finde wirklich krass, dass einerseits Harald um das Sterben kämpfen muss und andererseits ums Leben kämpfen muss. Was will man von ihm? Er darf nicht sterben. Er darf aber auch nicht leben. Was darf Harald?"
Harald Mayer: "Die bringen mich noch ins Grab, wenns so weiter geht…darauf spekulieren die vielleicht auch…"
Panorama: "Ich bin jetzt mal zynisch: Wolltest Du das nicht auch?"
Harald Mayer: "Ja, natürlich will ich das auch, aber wenn die Schmerzen überhandnehmen und nicht, wenn es mir relativ gut geht. So wie jetzt. Dann könnte ich mit Hilfsmitteln mehr anfangen."
Schließlich greifen er und Vanessa zu einer ungewöhnlichen Lösung und starten einen Spendenaufruf:
Clip: Hi, liebe Community. Das ist Harry. Er hat einen elektrischen Rollstuhl. Nun war es zuletzt so, dass er von Februar bis April zwei Monate lang komplett im Bett war, 24 Stunden, weil der Rollstuhl kaputt war. Nun haben wir 10.000 Euro gesammelt für einen neuen Rollstuhl, weil die Kassen ihn ablehnen. Es würde uns die Welt bedeuten, wenn Ihr dieses Video teilt. (Quelle: Vanessa Evren.)
40.000 Euro kommen zusammen. Fast genug für den neuen Rollstuhl.
Harald Mayer: "Da habe ich der Krankenkasse angeboten, ich zahle die Differenz zum höherwertigen Rollstuhl, wie ich ihn haben will, selbst, aber selbst das wird mir abgelehnt."
Dennoch fährt Harald zur Reha-Care - eine Fachmesse für Hilfsmittel, die ein selbstbestimmtes und damit würdigeres Leben versprechen.
Harald Mayer: "Ich kaufe jetzt einen Rollstuhl mit dem Spendengeld. Wahnsinn, Wahnsinn… Hier könnte ich den ganzen Tag verbringen. Da gibt es viel Hilfe, wenn man Geld hat."
Harald entdeckt einen Roboterarm, der ihm Tasten und Greifen ermöglichen würde und vieles mehr.
Harald Mayer: "Wahnsinn! Greifen, trinken allein, ohne fragen super! Ich könnte mich auch mal wieder kratzen am Kopf."
Zurück von der Messe schwärmt er Vanessa vom Roboterarm vor: Kein Opfer sein. Kein Bittsteller. Mit dem Roboterarm bekäme er fast seine Arme zurück. Er hat es selbst getestet.
Harald Mayer: "Ich bin mal gespannt, ob ich dann mit dem Roboterarm auch was essen kann. Ich hoffe, dass ich das lerne."
Vanessa Evren: "Ja, dass du selbst essen kannst, ist der Inbegriff für selbstbestimmtes Leben, ne?"
Harald Mayer: "Das ist für mich Freiheit…Ja."
Vanessa Evren: "Hast Du wieder Deine eigene Hand."
Harald Mayer: "Ja. Ist doch offensichtlich, dass ich eine neue Hand brauche. Dass man um alles so kämpfen muss, was offensichtlich ist."
Tatsächlich will die Krankenkasse auch den Roboterarm nicht bezahlen. Begründen will sie das vor der Kamera trotz Anfrage nicht. In der Ablehnung schreibt die TK an Harald Mayer: "Ein Roboterarm bietet Ihnen keine Gebrauchsvorteile. Er verbessert Ihre selbständige Lebensführung nicht. Sie benötigen weiterhin umfangreiche personelle Hilfe durch Ihre Assistenzkraft." (Quelle: Techniker Krankenkasse)
Seine Krankenkasse präsentiert sich auf der Pressekonferenz der Reha-Care. "Mitten im Leben stehen" ist das Motto. Teilhabe - Hilfsmittel können diese ermöglichen. Wir nutzen die Gelegenheit und fragen bei dem Pressesprecher nach.
Panorama: "Wir sind uns hier alle einig, dass Hilfsmittel mehr Teilhabe ermöglichen für Menschen mit Behinderungen. Warum ist es dann so schwierig, diese Hilfsmittel zu bekommen für Betroffene?"
Christian Elspass, Pressesprecher der TK/NRW: "Das Problem ist: Die Wirtschaftlichkeit steht im Sozialgesetzbuch. In den Vorgaben, die die Politik uns gibt, und an diese Vorgaben sind wir gebunden. Da steht drin: Wirtschaftlich, ausreichend, nützlich und dem wissenschaftlichen Stand entsprechend."
Panorama: "Viele haben nicht die Zeit zu warten, bis die Politik handelt. Dann geht es darum, dass sie schnell Hilfsmittel bekommen ohne ein Hin und Her."
Christian Elspass: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass in Deutschland jemand der ärztlich verordnet ein Hilfsmittel braucht, das auch sehr zeitnah bekommt."
Harald Mayer: "Das, was ein Arzt verordnet! Aber zeitnah? Was ist denn zeitnah? Reden wir von Jahren, oder?"
Warum es in der Praxis häufig lange dauert, die gepriesenen Hilfsmittel - wenn überhaupt - zu bekommen - dazu will uns der Pressesprecher nichts sagen. Die Verantwortlichen säßen in Berlin - sprach‘s und ging.
Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter: "Wir sind alle grundsätzlich dafür, dass sorgsam und sparsam mit öffentlichen Geldern umgegangen wird. Das ist die eine Seite, auf der anderen Seite haben wir Schilderungen, wie Sie sie jetzt auch mir geben, wo das dann im Einzelfall unangemessen ist und dass sich diese Einzelfälle auch häufen."
Wenn echte Teilhabe ermöglicht wird, denken Menschen mit Behinderung nicht an Suizid, heißt es gebetsmühlenartig aus Berlin. Immerhin, nach zähem Hin und Her bekommt Harald den Roboterarm doch von der Kasse. Aber solche Kämpfe gehen an die Substanz. Und zum neuen Jahr kündigt ihm auch noch der Pflegedienst.
Harald Mayer: "Ich hatte voll Panik, und ich weiß nicht, wie es weiter geht - wie geht das jetzt innerhalb von sechs Wochen weiter? Das ist so kurz. Angst habe ich total."
Wir fragen beim Geschäftsführer des ambulanten Dienstes nach: Wieso kann Harald Mayer nach fünf Jahren plötzlich nicht mehr betreut werden?
Oliver Schardt, Geschäftsführer Club Aktiv e.V.: "Es liegt eigentlich daran, dass sich der gesundheitliche Zustand von Herrn Mayer massiv verschlechtert hat. Es kam zu seiner Erkrankung oder durch die Erkrankung eine massive Aspirationsproblematik…"
Panorama: "Also Sie meinen natürlich mit Aspirationsproblematik, dass Harald Mayer immer schlechter Luft bekommt und dass Sie Angst haben, er könnte ersticken, wenn er sich verschluckt?"
Oliver Schardt: "Genau. Das ist die Angst."
Panorama: "Also das heißt, eigentlich ist er zu krank für Sie geworden?"
Oliver Schardt: "Die Krankheit ist zu weit fortgeschritten, für einen Dienst mit Nicht-Fachkräften."
Fachkräfte rund um die Uhr kann Harald sich nicht leisten. Bliebe das Heim.
Vanessa Evren, Assistenzkraft: "Das Leben in einem Heim würde für ihn bedeuten, dass das ganze soziale Umfeld und Netzwerk und seine Wohlfühloase hier wegbricht."
Unvermeidbar ist: Harald wird Vanessa gehen lassen müssen und damit eine Gefährtin verlieren, mit der er noch einiges erleben konnte.
Harald Mayer: "Das ist Freundschaft geworden. Das ist viel viel mehr."
Vanessa Evren, Assistenzkraft: "Dadurch, dass die Versorgung endet, heißt für mich, dass eine Ära zu Ende geht, eine Freundschaft, und ich fühl mich so, als würde ich ihn im Stich lassen."
Mit viel Aufwand findet er neue Assistenten. Aber das alles deprimiert und lässt ihn wieder an den anderen Kampf denken, den um das Sterbemittel.
Harald Mayer: "Je weniger Hilfe an Teilhabe ich bekomme, umso lieber wäre es mir doch, ich wäre nicht mehr da."
Panorama: "Politiker glauben ja, wenn Du ein Sterbemittel im Schrank hast, setzt es Dich unter Druck, es zu nehmen."
Harald Mayer: "Ach, was. Das setzt mich doch nicht unter Druck! Die mangelnde Teilhabe setzt mich unter Druck. Ich würde noch gerne ein paar Dinge erleben, bevor ich die Sterbehilfe in Anspruch nehme."
Heute Mittag in Leipzig. Noch keine Entscheidung. Das Urteil wird in knapp zwei Wochen verkündet. Dennoch:
Harald Mayer: "Der Weg hat sich gelohnt. Und dann wird das Natrium-Pentobarbital bald hoffentlich rausgegeben."
Robert Roßbruch, Rechtsanwalt: "Wenn wir ein positives Urteil haben, das werden wir am 7.11. wissen, dann kann es aus meiner Sicht relativ schnell gehen, dass Harald Mayer dieses Mittel bekommt. Das liegt allerdings auch am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ob es diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes respektiert."
Wer entscheidet über Leben und Tod? Sechs Jahre währt nun sein Kampf gegen den Staat. Nach der Verhandlung heute ist Harald zuversichtlich, dass er endlich sein Sterbemittel bekommt. Nicht um sich gleich zu töten, sondern um sich die Selbstbestimmung zu erhalten, wenn das Leben ihm nicht mehr lebenswert erscheint.
Bericht: Tina Soliman
Kamera: Torsten Lapp
Schnitt: Claudia Qualmann
Abmoderation Anja Reschke: „Unsere Berichterstattung über das zähe Verhandeln des Sterbehilfegesetzes und das Verschleppen der Entscheidung zu den Medikamenten und den jahrelangen Einsatz von Harald Meyer finden Sie unter Panorama.de“