Radikale Klimaproteste: Stoppen sie die Katastrophe?

Stand: 21.07.2022 12:07 Uhr

Fast täglich blockierte die "Letzte Generation" in den letzten Wochen Autobahnabschnitte. Bewegt der radikale Protest die Politik zum Handeln?

von Ann-Brit Bakkenbüll, Konstanze Nastarowitz, Katharina Schiele

Die Menschen wollen zur Arbeit, zur Schule oder zum Arzt. Jetzt stecken sie fest an der Ausfahrt der A111 am Kurt-Schumacher-Damm: Einen weiteren Tag in Folge haben Klima-Aktivisten und Aktivistinnen der "Letzten Generation" sich an einem Ampel-Übergang an den Asphalt geklebt. Nach Angaben der Protestierenden sind rund 90 Autobahnblockaden in vier Wochen allein in Berlin ihre aktuelle Bilanz. In leuchtenden orangenen Warnwesten sitzen sie auf der Straße und halten den Autos ihre Forderungen auf Bannern entgegen. Eine Frau hält es nicht mehr in ihrem Auto, lautstark beklagt sie sich über die Aktion: "Aber sonst geht’s euch gut, oder?" Mit ihrem Frust ist sie nicht allein: Immer wieder stürmen wütende Auto-Fahrer und - Fahrerinnen nach vorne, diskutieren, grölen Schimpfworte. Hier und heute hat die "Letzte Generation" kaum jemanden von ihrem Anliegen überzeugen können.

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"Gigantische Angst" vor dem Klima-Kollaps

Carla Hinrichs ist eine von denen, die hier beschimpft werden: "Ich bin heute hier, weil wir in einen absoluten Kollaps unseres Klimas rasen und damit in einen Kollaps unserer Gesellschaft. Und das macht mir einfach gigantische Angst."

Mitglieder der sogenannten "Letzten Generation" besetzen eine Straße © NDR Foto: NDR
Sie blockieren Straßen oder kleben sich auf Autobahn-Auffahrten am Asphalt fest: Aktivist:innen der "Letzten Generation".

Dieser drohende Kollaps wurde in den letzten Monaten und Jahren immer spürbarer: Extreme Wetterereignisse häufen sich - Waldbrände, Dürreperioden, ausgetrocknete Flussbetten. Dass diese Ängste berechtigt sind, steht außer Frage, sagt auch Klimaforscher Mojib Latif: "Es ist längst schon fünf nach zwölf. Wir können nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Und selbst dabei ist die Politik viel zu langsam." Die Bezeichnung "Letzte Generation" sei treffend: "Aus wissenschaftlicher Sicht sind wir in der Tat die letzte Generation, die es noch schaffen kann, dass wir die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad begrenzen."

Warnzeichen für Radikalisierungstendenzen

Konstantin Kuhle, Innenpolitischer Sprecher der FPD-Bundestagsfraktion, beobachtet die Entwicklung der Klimabewegung kritisch: "Man kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht seriös prognostizieren, ob die Klimabewegung insgesamt abgleitet in eine Radikalisierung und in eine bestimmte Form der Militanz. Es gibt aber bestimmte Warnzeichen, die man ernst nehmen muss, wenn da mit einem gewissen Fatalismus verbreitet wird: Wir wissen uns nicht anders zu helfen."

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Ziviler Ungehorsam als letzte Möglichkeit

Und tatsächlich: Sie weiß sich wirklich nicht mehr anders zu helfen. Denn bevor sich Carla Hinrichs auf Autobahnen geklebt hat und regelmäßig in Polizeigewahrsam gekommen ist, hat sie es anders probiert. Gemeinsam mit Hunderttausenden ist sie bei "Fridays For Future" laut geworden. Doch all die Proteste vor den Ministerien hätten nichts gebracht, sagt sie: "Wir wurden überhört und wir rasen in diesen Kollaps. Und die Zeit, in der wir noch handeln können, schließt sich unfassbar dramatisch schnell." Deswegen störe sie nun auf Autobahnen. So will sie Aufmerksamkeit generieren und Druck auf die Politik aufbauen. Es gelte, so lange den Alltag zu stören, bis die Politik endlich handele. Sie berufen sich dabei auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit.

Für die einen ziviler Ungehorsam, für die anderen potentielle Straftaten: Nach Angaben der Berliner Polizei liegen mittlerweile 1391 Strafanzeigen und   492 Ordnungswidrigkeitsanzeigen in Zusammenhang mit den Aktionen der "Letzten Generation" vor (Stand: 18.Juli.2022). Die Berliner Staatsanwaltschaft gibt an, es seien bislang 175 Ermittlungsverfahren in Zusammenhang mit den Protesten registriert worden, z.B. wegen Nötigung oder Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (Stand 19.Juli.2022). 

Kühnert: Politik darf nicht erpressbar sein

Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär © NDR Foto: NDR
Will sich nicht erpressen lassen: Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert versteht das Anliegen der Aktivisten und Aktivistinnen durchaus, sagt aber: "Ich bin völlig unabhängig von der Frage, was gefordert wird, grundsätzlich dagegen, dass wir in eine Situation kommen, in der man den Bundeskanzler oder ein anderes Regierungsmitglied erpressen kann. Wenn das einmal Schule macht, dass man eine Forderung stellt, ihr mit einer Aktion des zivilen Ungehorsams Nachdruck verleiht und erst damit aufhört, wenn die Forderung erfüllt ist, dann werden natürlich viele zu dem Schluss kommen: Warum soll ich mich noch einer nächsten Wahl stellen und mich vors Wahlvolk begeben und um Zustimmung bitten, wenn ich auch einfach eine Autobahn blockieren kann?"

Die Politik steht vor dem Problem, dass viele politische Maßnahmen aus Klimasicht zwar sinnvoll, sogar notwendig sind, Politik aber für all diese Maßnahmen eben die Mehrheit der Gesellschaft hinter sich brauche. Kühnert: "Eine Klimaschutzpolitik, die von einer Mehrheit der Gesellschaft als zu krass, zu sozial einschneidend, zu ungerecht erachtet wird, wird dazu führen, dass bei der nächsten Wahl andere Akteure gewählt werden, die weniger Klimaschutz machen."

Forderung: Keine neuen Öl-Bohrungen in Nordsee

Auf ihren Bannern prangt der Slogan: "Nordseeöl - Nö!". Sie fordern von der Bundesregierung eine klare Absage an die Forderung einzelner FDP-Politiker neue Ölbohrungen in der Nordsee zu prüfen. Auch der damalige parlamentarische Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Oliver Krischer, kündigte im "Tagesspiegel" im März an, im Ministerium prüfen zu lassen, ob eine Erhöhung der Öl- und Gasförderung in Deutschland möglich ist. Ob sich das auf bestehende Bohrungen bezieht oder ob damit auch neue Bohrungen gemeint sein könnten, geht daraus nicht hervor. Auf eine schriftliche Anfrage von Panorama antwortet das Ministerium, dass man weder neue Ölbohrungen vorbereite, noch prüfe, inwieweit diese möglich wären. Die nötigen Genehmigungen würden sowieso in die Zuständigkeit der Länder fallen. Carla Hinrichs gibt sich damit nicht zufrieden: Die Regierung dürfe die Verantwortung nicht an die Länder abschieben.

Über den Sommer unterbricht die Gruppierung nun die Blockaden - aber nur, um noch mehr Mitstreiter und Mitstreiterinnen für eine neue Welle des Protests zu gewinnen.

 

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Der Panorama-Beitrag vom 21. Juli 2022 als PDF-Dokument zum Download. Download (111 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 21.07.2022 | 23:15 Uhr

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