Lockerungen: Mulmiges Gefühl auf Intensivstationen
Laut neuen Zahlen des Prognosemodells zur Intensivbettenauslastung könnten die Öffnungen nach dem 7. März zu einem Anstieg der Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen führen.
Manchmal hat Michaela Strätz das Gefühl, es hört nie auf. Die Intensivpflegerin ist auf dem Weg zum Spätdienst zu ihrer Covid-Intensivstation in Dresden. Für Panorama führt sie Video-Tagebuch und filmt ihre Arbeit auf der Station mit dem Handy.
Heute filmt sie mal einen schönen Moment. Ein Corona-Patient kann sich nach Wochen zum ersten Mal wieder aufsetzen. "Schön weiter atmen“, ermuntert sie den Patienten. "Was passiert denn, wenn ich Sie loslasse? Fallen Sie dann nach hinten?", fragt sie. Der Mann kippt mit dem Oberkörper nach hinten, kann sich aber gerade noch stabil halten. Die Covid-Erkrankung hat ihm schwer zugesetzt. Strätz hat jetzt endlich auch mal etwas mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten. Denn die Zahl der Intensivpatienten ist etwas zurückgegangen. Anfang Januar waren etwa 5.700 Covid-Erkrankte auf deutschen Intensivstationen. Ein historischer Höchstwert. Heute sind es etwa 2.800 Patienten, viel weniger, aber immer noch so viele wie auf dem Scheitelpunkt der ersten Welle.
Anstieg der Patientenzahlen wird befürchtet
Laut neuen Zahlen eines Prognosemodells von Intensivmedizinern, die Panorama exklusiv vorliegen, könnten die Öffnungen nach dem 7. März zu einem Anstieg der Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen führen. Sollte durch die Öffnungen nach dem 7. März der R-Wertes auf ungefähr 1,4 ansteigen, könnte die Zahl der Corona-Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen auf mehr als 9.000, sogar über 10.000 hochschnellen. So ein R-Wert gilt als gar nicht so unrealistisch, er entspricht dem Stand aus dem Dezember 2020 unter Einbeziehung der ansteckenderen britischen Mutante. Diese Berechnungen finden sich im "Prognosemodell zur Intensivbettenauslastung", das die Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am 4. März vorstellen will.
"Das wäre ein absoluter Höchststand, den wir bisher noch nie hatten in der Intensivmedizin“, warnt Christian Karagiannidis vom DIVI-Intensivregister. "Ich bin überzeugt, dass wir damit nicht gut zurechtkommen würden. Die Qualität der Versorgung würde definitiv darunter leiden."
Auch wenn der R-Wert bloß auf etwa 1,2 stieg, würde dies ebenfalls zu einer dritten Welle mit mehr als 5.000 Corona-Patientinnen und Patienten führen. Selbst wenn acht Millionen Impfdosen pro Woche verimpft würden. Grundsätzlich begrüßen die Medizinerinnen und Mediziner des DIVI zwar die aktuellen Beschlüsse: "Wichtig ist aber, dass die Menschen sich weiter diszipliniert verhalten, sonst bekommen die Intensivstationen Probleme."
Die Simulationen basieren auf den folgenden Annahmen:
Impfpläne bereits eingerechnet
In die neuen Zahlen des Prognosemodells sind die aktuellen Impfpläne der Bundesregierung eingerechnet. "Egal wie schnell oder langsam wir jetzt impfen - wenn wir jetzt zu viele Kontakte zulassen und der R-Wert wieder richtig hochgeht, dann fliegt uns Ding auf den Intensivstationen um die Ohren", so Karagiannidis.
Pflegende und Ärztinnen und Ärzte seien zudem ausgelaugt und müde nach dem harten Kampf auf den Intensivstationen in den vergangenen Monaten. "Den Patienten geht es von jetzt auf gleich schlecht. Es ist so geballt, es ist so unvorhersehbar", berichtet Intensivpflegerin Strätz.
"Das macht einem Angst"
Regelmäßig muss sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen schwerkranke Patientinnen und Patienten vom Rücken auf den Bauch drehen. Körperliche Höchstleistung, bei der kein Zugang und kein Schlauch verrutschen darf. Hinzu kommt die eigene Isolation: Über Stunden und in voller Schutzausrüstung arbeitet sie in den Patientenzimmern, kümmert sich wochenlang um die Covid-Patientinnen und -Patienten. Dass die Corona-Zahlen wieder hochgehen, beschäftigt Strätz sehr: "Das macht einem Angst, weil man dann überlegt: Okay, wie wird das dann auf der Intensivstation? Wird das wieder so schlimm wie gerade zu Weihnachten und Silvester und dann bis Ende Januar rein?"
Die nächsten drei bis vier Wochen bieten laut den neuesten Zahlen aus dem Prognosemodell aber auch eine große Chance. Gelingt es, den R-Wert im März unter 1,2 zu halten, werden laut Prognose-Modell bloß etwa 1.000 Patientinnen und Patienten in der Spitze auf den Intensivstationen liegen. "Also die nächsten drei bis vier Wochen sind für uns ganz entscheidend, um das Spiel jetzt auch nicht in der Nachspielzeit zu verlieren", sagt Karagiannidis: "Jetzt ist wirklich Licht am Ende des Tunnels. Ich glaube, dann kann man nochmal die ganzen Kräfte mobilisieren."
Öffnungen trotz hoher Inzidenzen
Bund und Länder hatten sich trotz steigender Zahlen am Mittwoch auf weitere kleine Öffnungsschritte geeinigt. Die Medizinerinnen und Mediziner der DIVI empfehlen, dass die Öffnungsschritte eng überprüft werden: "Das bedeutet, wenn ich Schulen öffne, dann kann ich das tun. Aber dann muss ich auch dicht dran sein an den Eltern und an den Lehrern und testen, ob die sich infizieren oder nicht", so Karagiannidis. Auch Öffnungen im Einzelhandel seien möglich, wenn die Menschen FFP2-Masken trügen und bei Ansteckungen schnell reagierten.
Daten aus Dänemark: Mehr Krankenhausaufenthalte durch britische Mutante
Die Medizinerinnen und Mediziner der DIVI widersprechen mit ihren Prognosen auch Aussagen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) aus der vergangen Woche. Deren designierter Hauptgeschäftsführer Gerald Gaß hatte der Zeitung "Die Welt" gesagt: "Wir können in dieser Situation auch mit einer Inzidenz von 50 oder 70 leben und wieder Lockerungen zulassen, ohne dass die Kliniken überlastet sein werden." Neben den Bildungseinrichtungen sollte man auch über Kulturveranstaltungen und Gastronomie nachdenken, so Gaß.
Karagiannidis entgegnet: "Wir haben immer noch knapp unter 3.000 Patienten, und das ist historisch ein absoluter Spitzenwert. Jetzt kamen Daten aus Dänemark, die gezeigt haben, dass deutlich mehr Patienten ins Krankenhaus müssen, wenn sie die britische Mutante haben. Wenn sich das bestätigt, bedeutet das, dass ich bei den gleichen Inzidenz-Werten, die ich vielleicht vor zwei Monaten habe, viel mehr Patienten im Krankenhaus habe. Deswegen ist mein Credo, dass wir von solchen Aussagen Abstand nehmen sollten."