Sterbehilfe: Spahn boykottiert Recht
Kaum ein Thema wird so intensiv und emotional diskutiert wie die Sterbehilfe. Nur vom zuständigen Minister Jens Spahn hört man so gut wie nichts dazu.
Wenn man nach Berichten über das Thema Sterbehilfe sucht, findet man seit vielen Monaten fast jeden Tag Artikel, oft gleich mehrere. Kaum ein Thema wird so intensiv und emotional diskutiert. Höchste Gerichte haben sich jahrelang damit befasst. Weltanschauungen und Werte prallen aufeinander. Selbst die Kirchen sind sich nicht mehr einig. Nur vom zuständigen Minister Jens Spahn hört man so gut wie nichts dazu. Der fast täglich zu Corona präsente Gesundheitsminister taucht auf Anfragen von Journalisten zur Sterbehilfe ab, selbst höchstrichterliche Urteile mit Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung ignoriert er.
Das Recht auf eine eigene Entscheidung
Harald Mayer (49) begleiten wir nun schon rund drei Jahre bei seinem Kampf gegen die Krankheit Multiple Sklerose. Den Kampf gegen die Krankheit hat er verloren. Der ehemalige Feuerwehrmann aus Ramstein ist vom Hals abwärts gelähmt. Es geht ihm immer schlechter. Noch kann er schlucken und atmen, mit uns sprechen. Ja, sogar Witze machen. Dennoch: Rund um die Uhr muss Mayer betreut werden. Doch auch wenn er sonst weitgehend auf fremde Hilfe angewiesen ist: Wann er aus dem Leben geht und wann er das alles nicht mehr ertragen kann - das will er selbst entscheiden. Und umsetzen. Dies ist der zweite große Kampf in Harald Mayers Leben. Der Kampf um das dafür bestmögliche Mittel Natrium-Pentobarbital.
Behörde täuscht Prüfung nur vor
Für die Freigabe des Betäubungsmittels, das auch in der Tiermedizin eingesetzt wird, ist die dem Gesundheitsministerium unterstehende Behörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), zuständig. Doch bisher scheitert Mayer an der Behörde. Sie fordert seit Jahren Atteste und Gutachten bei den Schwerstkranken wie ihm an. Monatelang täuschten die Mitarbeiter des BfArM eine individuelle Prüfung zwar vor.
Denn was Harald Mayer und viele weitere Betroffene nicht ahnten: Spahns Ministerium hatte seine Behörde längst dazu aufgefordert, die Anträge in jedem Fall abzulehnen. Spahns Staatssekretär schreibt im Juni 2018 den Beamten: "Nach intensiver Beratung im Bundesministerium für Gesundheit möchten wir Sie hiermit bitten, solche Anträge zu versagen."
Höchstrichterliche Urteile ignoriert
Entgegen des Urteils des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts, das die Freigabe von Natrium-Pentobarbital für Schwerstkranke vorsieht. Denn "eine Pflicht zum Weiterleben gegen den eigenen Willen berührt den Kern eigenverantwortlicher Selbstbestimmung (...). Eine solche Pflicht darf der Staat schwer und unheilbar kranken, aber zur Selbstbestimmung fähigen Menschen nicht - auch nicht mittelbar - auferlegen." So entschied im März 2017 das Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Dieses Urteil ging von einem Einzelfall aus, aber: "Das Urteil galt unmittelbar, und alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland waren wie selbstverständlich an dieses Urteil gebunden!", so der Verfassungsrechtler Prof. Hubertus Gersdorf.
Der interne Schriftverkehr zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und seiner Behörde, dem BfArM liegt Panorama vor. Verfassungsrechtler Hubertus Gersdorf wirft Spahn und seinen Behördenmitarbeitern hier einen "Rechtsbruch" vor. "Wenn das Ministerium oder das entsprechende Institut hier Hürden errichtet, die nicht errichtet werden dürfen, dann verletzt das Institut und damit der Bund Grundrechte und damit die Verfassung", so Gersdorf.
Doch selbst das Urteil des höchsten deutschen Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts, scheint den Gesundheitsminister nicht zu tangieren: Im Februar dieses Jahres entscheidet das Bundesverfassungsgericht: Die Einschränkung der Sterbehilfe, also der §217 Strafgesetzbuch, ist verfassungswidrig, verstößt gegen das Grundgesetz und gilt damit ab sofort als null und nichtig! Der damalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle stellte in aller Deutlichkeit klar: "Die Entscheidung des Einzelnen, nach seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren."
Ein "gefährliches Urteil"?
Spahns Unionskollege Michael Brand, der maßgeblich an der Formulierung des §217 beteiligt war, ist im Panorama-Interview der Meinung, dass das oberste deutsche Gericht mit seinem Urteil die Autonomie des Einzelnen "überhöht": "Das Urteil ist gefährlich für Menschen, die unter Druck stehen - es ist ja auch nachgewiesen, dass Suizidassistenz zu höheren Suiziden führen." Dass die Anzahl der assistierten Suizide durch eine Lockerung in die Höhe schnellt, ist allerdings nicht belegt. Seit 1997 ist im US-Bundesstaat Oregon der ärztlich assistierte Suizid unter Auflagen erlaubt. Die Angst, dass diese Erlaubnis sozialen Druck auf Kranke und Schwache ausüben könnte, hat sich nicht bewahrheitet. Und selbst wenn es in Deutschland häufiger zu assistierten Suiziden käme, würde das nur bedeuten, dass ein Grundrecht wahr genommen würde.
Medizinrechtlerin Katrin Helling-Plahr spricht nach der Urteilsverkündung im Panorama-Interview von einer Lehrstunde für Abgeordnete: "Nicht nur Spahn lag unendlich falsch, sondern alle, die dem Paragraphen 217 zugestimmt haben, auch Herr Brand und alle Protagonisten des §217 lagen falsch, und aus meiner Sicht war das auch heute eine Lehrstunde für diese Abgeordneten, des Selbstbestimmungsrechts und des Verfassungsrechts, und insofern bin ich auch froh, dass Herr Brand sich das an Ort und Stelle anhören musste, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts."
Spahns Ministerium verschleppt Regelung
Harald Mayer wäre nach der Urteilsbegründung "am liebsten in die Luft gesprungen", wie er uns direkt nach dem Urteil erzählte. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Denn das Bundesverfassungsgericht hat zwar den assistierten Suizid erlaubt, dem Bundesgesundheitsminister jedoch aufgetragen, den assistierten Suizid genauer zu regeln.
Das hat Minister Spahn bisher nicht umgesetzt. Generell zeigt er sich äußerst schmallippig, wenn es um das Thema Sterbehilfe geht. Mehrfach - über Jahre hinweg - fragen wir bei ihm an - kein Interview, keine Antwort auf unsere Fragen. Bei "Maischberger" konnte er nicht ausweichen: Spahn gab zu, dass er nach dem bahnrechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts erst einmal "schlucken musste". Doch ein Recht auf Sterben würde noch lange nicht bedeuten, dass es eine Pflicht zum Helfen gebe.
Seit dem Karlsruher Urteil sind rund acht Monate vergangen. Seitdem gilt §217 nicht mehr, seitdem ist Spahn aufgefordert, neue Regeln für den assistierten Suizid zu schaffen. Doch passiert ist nichts, außer, dass der Bundesminister die Expertise aus verschiedenen Fachrichtungen eingeholt hat. Spahn verhalte sich auch hier "verfassungswidrig", so Verfassungsrechtler Gersdorf: "Er hat die erforderlichen gesetzlichen Regelungen auf den Weg zu bringen."
Harald Mayer ist frustriert. Er hat viel Vertrauen in den Rechtsstaat verloren. Was ist dieser wert, wenn Gerichte entscheiden, aber Urteile folgenlos bleiben, fragt er uns. Seit rund drei Jahren bekräftigt Harald Mayer uns gegenüber seinen Suizidwunsch - es gibt dabei keinerlei Schwankungen! Doch der Kampf um sein Recht auf ein selbstbestimmtes Ende mit dem Mittel seiner Wahl gibt ihm paradoxerweise neue Lebenskraft: "Ich krieg das" gibt er uns mit auf den Weg.