Sterbehilfe: Vom Gericht erlaubt, vom Minister verhindert
"Die ganze Menschheit überlegt: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ich frage mich aber: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Das Leben, das ich habe - vor dem Tod - das ist kein Leben mehr!", sagt Harald Mayer. Sein Leben ist ein Leben in totaler Abhängigkeit, denn seine Krankheit, Multiple Sklerose, hat ihm jedwede Bewegungsmöglichkeit genommen. Für jeden Handschlag braucht er einen Assistenten: Nachts, wenn er sich umdrehen will, oder - während unseres Telefonats - zum Naseputzen und Tränentrocknen. Er kann es nicht allein, muss den Pfleger zur Hilfe rufen.
Harald Mayer (47) war begeisterter Feuerwehrmann auf der Air Base in Ramstein, ist viel gereist und konnte vor zwei Jahren sogar noch in den Tauchurlaub nach Ägypten fahren. Seitdem gehe es rapide bergab. Er kann nicht einmal mehr die Hand zur Begrüßung heben. Seinen Computer oder die Fernbedienung für den Fernseher steuert er mit den Augen. So sitzt er Tag für Tag vor dem Bildschirm und sieht anderen Menschen beim Leben zu. Bewegungslos. Seine Freundin hielt lange zu ihm. Vor zwei Jahren hat sie ihn verlassen.
"Ist das noch ein erträgliches Leben?", fragt er und schiebt die Antwort hinterher: "So will doch niemand leben, oder? Ich mag das Leben nicht mehr. Ich habe keine Freude mehr. Das Leben bietet nichts mehr für mich. Es macht nichts mehr Spaß! Ich will gehen: Selbstbestimmt!"
Nicht qualvoll sterben müssen
Dass vor über einem Jahr das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein Betäubungsmittel namens Natrium Pentobarbital erlaubt hat, ist für Menschen wie Mayer ein Geschenk des Himmels. Auch für Ulrike Francke. Die 74-Jährige leidet ebenfalls an MS. Sie ist selbst Ärztin, kennt ihre Prognose nur zu gut. Deshalb will sie rechtzeitig vorsorgen - solange sie noch kann. "Ob ich mich in den Tod rein quäle oder ob ich ruhig hinein schlafe - wenn die Zeit da ist, dann wähle ich doch, dass ich ruhig hinein schlafen kann", meint Francke. Natürlich gäbe es auch andere Möglichkeiten, doch die seien qualvoll und unsicher und damit keine Alternativen: "Sie können sich natürlich mit Alkohol abfüllen und so und so viele Tabletten von denen und jenen nehmen, aber wenn sie Pech haben, wachen sie auf und werden wiederbelebt."
Ulrike Francke wollte deshalb vorsorgen und hat, wie Harald Mayer, einen Antrag auf Natrium Pentobarbital beim zuständigen Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestellt.
Doch statt Genehmigung des Betäubungsmittels werden Francke, Mayer und etwa 100 weitere Antragssteller aufgefordert, Gutachten und Atteste beim BfArM einzureichen. "Da müsste ich ja schon in der Jugend angefangen haben, um all die Unterlagen zusammen zu bekommen", scherzt Francke bitter. Seit über einem Jahr warten sie auf eine Entscheidung.
Anweisungen, das Medikament nicht herauszugeben?
Im Gespräch mit Bundestagsabgeordneten der Koalition kommt nun heraus, dass es offenbar eine Anweisung des Bundesgesundheitsministers an seine ihm unterstehende Behörde, dem BfArM, gibt, keine todbringenden Medikamente herauszugeben. Dazu befragt, möchte sich weder der Gesundheitsminister im Interview äußern, noch die ihm unterstehende Behörde, das BfArM.
Schriftlich erklärt das BfArM, "dass die Antragsteller vorbehaltlich einer endgültigen Klärung der Verfassungsmäßigkeit des Urteils vom BfArM angeschrieben und um die Vorlage von Unterlagen gebeten wurden bzw. werden, die für die Antragsbearbeitung zwingend erforderlich sind. Die Anforderungen richten sich dabei insbesondere nach den Vorgaben im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Wir möchten auch nochmals darauf hinweisen, dass jeder Antrag ein individueller Antrag ist, der zunächst vollständig sein muss und dann vom BfArM sorgfältig bearbeitet wird".
Karl Lauterbach (SPD) hält diese Vorgehensweise für "Trickserei": "Die Art und Weise, wie das BfArM die Sterbenden hinhält und mit Aufgaben unterhält, die tatsächlich keine Auswirkungen haben, ist beschämend. Das BfArM müsste dann auch ehrlich sein und sagen, wir machen es nicht, wir haben eine Anweisung durch das Bundesgesundheitsministeriums, das geltende Recht nicht umzusetzen."
Der CDU-Abgeordnete Michael Brand gibt Panorama gegenüber offen zu: "Das Urteil ist in der Welt, aber es hat keinerlei Signalwirkung und ich finde es richtig, dass der Bundesgesundheitsminister, sowohl der Vorgänger, als auch der jetzige, das Bundesinstitut angewiesen haben, keine todbringenden Medikamente herauszugeben." Ein letztinstanzliches Urteil wird ignoriert?
Ungläubig schüttelt Ulrike Francke den Kopf: "Was ist das denn für ein Signal, wenn selbst der Staat sich nicht an rechtskräftige Urteile hält? Worauf ist dann noch Verlass?"
Widerspricht das liberale Urteil dem Gesetz?
Es gibt tatsächlich ein Problem: Das liberale Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig könnte im Widerspruch zum Gesetz stehen. Denn im §217 des Strafgesetzbuchs heißt es:
Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Die Mitarbeiter des BfArM sind also in einer extrem schwierigen Lage. Geben sie das Betäubungsmittel heraus, könnten sie gegen das Gesetz verstoßen. Geben sie es nicht heraus, ignorieren sie ein rechtskräftiges Urteil - und den Willen von Todkranken.
Sterben wollen, bevor man sterben muss
Auch der Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock sieht hier ein Dilemma: "Was ich mir vorstellen kann, ist, dass die Mitarbeiter selbst in einer ganz schweren moralischen Konfliktsituation stehen. Und das darf nicht sein, dass Mitarbeiter einer Behörde im ordentlichen Vollzug ihrer Dinge den Eindruck haben, in Rechtsunsicherheit müssen sie Entscheidungen über Leben und Tod fällen." Er fordert, diese Rechtsunsicherheit nicht auf die lange Bank zu schieben. "Jetzt muss der Gesundheitsminister etwas dem BfArM sagen: (...) Es ist seine Behörde!“, mahnt Dabrock, auch wenn er das Bundesverwaltungsgerichts-Urteil für falsch hält. Allerdings: Dabrock sieht zunächst die Legislative und nicht die Exekutive in der Pflicht!*
Dabei sind die Bedingungen, die das Leipziger Bundesverwaltungsgericht an die Freigabe des Betäubungsmittel geknüpft hat, hoch: Der Antragssteller muss unheilbar krank und entscheidungsfähig sein, und es dürfen keine anderen Möglichkeiten der Verwirklichung des Sterbewunsches zur Verfügung stehen.
Von den bisher 104 Antragsstellern sind in der Wartezeit bereits 20 verstorben. Harald Mayer hat Angst, dass er der nächste sein wird. "Die Zeit läuft ab! Tag für Tag geht es mir schlechter. Was ist, wenn ich nicht mehr selbst das Mittel zu mir nehmen kann?" Dann gibt es für Mayer den Weg, den das Leipziger Urteil eröffnet hat, nicht mehr, denn ein Sterben auf Verlangen ist verboten. "Warum kann ich jetzt nicht diesen Zustand beenden? Warum muss ich so leben?", fragt Mayer.
Sterben wollen, bevor man sterben muss! Das ist sein letzter Wunsch - doch langsam schwindet die Hoffnung, dass das Urteil befolgt und sein letzter Wille erfüllt wird.
* Diese Passage wurde aktualisiert.