Amazon: Der Vorgesetzte sieht alles
Dokumente, die dem NDR vorliegen, belegen erstmalig: Amazon kontrolliert permanent die Leistung der Arbeiter. Genutzt wird dafür eine Software des Warenwirtschaftssystems.
Amazon ist einer der großen Corona-Gewinner. Die Umsätze steigen rasant und auch die Aktie befindet sich auf einem Rekordniveau: Seit Mitte März hat sich ihr Wert fast verdoppelt. Weniger rosig ist die Situation für viele Beschäftigte: Recherchen zeigen, dass sie engmaschig überwacht werden, damit die Produktivität steigt. Als Greenpeace zu Umweltproblemen bei Amazon recherchierte, stieß die Organisation auf diese Form der Überwachung und machte die Dokumente dem NDR zugänglich. Sie belegen erstmalig: Amazon kontrolliert permanent die Leistung der Arbeiter.
Und so funktioniert das Programm zur Leistungskontrolle: Der Amazon-Mitarbeiter scannt jedes Teil, das er einlagert, heraussucht oder in ein Paket packt. Dieser Scan-Vorgang wird sekundengenau aufgezeichnet und einem Vorarbeiter angezeigt. So kann er jeden Arbeitsschritt der Beschäftigten überwachen und sehen, ob ein bestimmter Arbeiter auch genügend Pakete, um die durchschnittliche Rate zu erfüllen. Er sieht auf seinem Display auch, wenn jemand mal für wenige Minuten nicht arbeitet. Geht es insgesamt nicht schnell genug, greift der Vorarbeiter ein.
Vorarbeiter bestätigt ständige Kontrolle
Das bestätigt ein Vorarbeiter, der in einem der Amazon-Versandlager in Deutschland arbeitet und sich gegenüber Panorama anonym äußert: "Dann gucke ich vor Ort, was das Problem ist. Unterhält sich der Mitarbeiter vielleicht zu lange, ist er nicht am Platz, zu oft auf der Toilette?" Amazon schreibt uns, das System helfe "Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Anlernen neuer Prozesse" und gebe bei Bedarf "Hilfestellungen".
Ob diese engmaschige, lückenlose Überwachung rechtlich einwandfrei ist, ist aber umstritten. In Niedersachsen läuft deswegen ein Kontrollverfahren der Datenschutzbehörde. Amazon schreibt uns auf Nachfrage: "Nach unserer Einschätzung sind diese Systeme im Einklang mit den Verordnungen und Gesetzen in Deutschland und in der EU." Man nutze das Programm als "Warenwirtschaftssystem, mit dem wir die Abläufe für Kundenbestellungen in unserem Netzwerk planen."
Rate steigt kontinuierlich
Auf dieser Grundlage werden die Arbeiter offenbar verglichen. Obwohl es offiziell keine Akkordarbeit gibt, entsteht so defacto ein starker Druck, so viele Pakete wie möglich zu bearbeiten. Denn: Wer am wenigsten leistet, muss um die Verlängerung des häufig befristeten Vertrags fürchten.
Am Ende entscheide auch die durch die Software gemessene Schnelligkeit, wer beschäftigt wird oder nicht, so der Vorarbeiter. Die Schnellen bleiben, die eher Langsamen müssen gehen. Die Folge: eine kontinuierlich steigende Durchschnitts-Rate, an der sich die Beschäftigten zu orientieren haben. Wer heute noch schnell genug ist, um weiter beschäftigt zu werden, kann schon morgen zu langsam sein - und damit vor dem Aus stehen.
Das Ergebnis, so der Vorarbeiter, führt zu den so genannten "Release Days" - übersetzt etwa "Tage der Freisetzung". An diesen Tagen wird den Mitarbeitern mitgeteilt, ob ihr befristeter Vertrag ausläuft oder verlängert wird. Der Vorarbeiter berichtet: "Man hat die Unterlagen vor sich, die Security steht bereit, falls es Probleme gibt. Denn wenn mehrere Leute gleichzeitig gehen mit schlechter Laune, kann es natürlich auch mal zu verbalen Auseinandersetzungen oder auch zu Handgreiflichkeiten kommen."
Ehemalige Beschäftigte bestätigt Überwachung
Fatma Körugallari hat die Überwachung am eigenen Leib erfahren. Sie hat fast zwei Jahre im großen Versandlager im niedersächsischen Winsen (Luhe) gearbeitet, wurde sogar in den Betriebsrat gewählt. Der Druck war immer zu spüren, erinnert sich die heute 60-Jährige. Wenn die Rate mal fiel, sei sie sofort ermahnt worden. "Ich wurde dann zum Beispiel gefragt, wo ich um eine bestimmte Uhrzeit war", sagt sie.
Kurz nach Weihnachten 2018 hat sie dann erst erfahren, dass ihr nur wenige Tage später endender Vertrag nicht verlängert wird. Zum plötzlichen Abschied habe es lediglich ein kühles Dankeschön und eine Tafel Schokolade gegeben. Amazon möchte diesen Fall nicht kommentieren.
Arbeitssoziologe: Fluktuation und Kontrolle Teil des Amazon-Modells
Für Peter Birke von der Universität Göttingen sind die ständige Überprüfung der Arbeiter und befristete Verträge Teil des Beschäftigungsmodells bei Amazon. "Solange die Leute noch befristet sind, ist die Sanktionsmöglichkeit des Betriebs groß, weil die Beschäftigten ohne Angabe von Gründen nicht weiter angestellt werden müssen", so der Arbeitssoziologe.