Patientenstudien: Wie Ärzte doppelt kassieren
"Das ist jetzt so eine Anwendungsbeobachtung für Dialysepatienten", sagte Frank Dellanna und zeigt auf einen Bildschirm. Der Internist arbeitet in einer großen Dialysepraxis in Düsseldorf. Hier behandelt er nicht nur Patienten, sondern ist auch für die Pharma-Industrie tätig. Unter anderem liefert er Daten für sogenannte Anwendungsbeobachtungen, etwa wie ein Patient ein bestimmtes Medikament verträgt. "Das sind Daten, die im normalen Behandlungsalltag erhoben werden", erklärt Dellanna, während eine seiner Mitarbeiterinnen einige Laborwerte aus der Patientenakte überträgt - eine gut bezahlte Arbeit. Die Auftraggeber sind in der Regel die Hersteller eben jener Medikamente, deren Wirkung untersucht werden sollen. Die Pharmakonzerne zahlen für Anwendungsbeobachtungen im Schnitt mehrere Hundert Euro - pro Patient. Insgesamt fließen auf diesem Weg jährlich etwa 100 Millionen Euro von der Industrie an Ärzte.
17.000 Ärzte bekamen 2014 Geld für umstrittene Studien
Kritiker beurteilen einen Großteil der Anwendungsbeobachtungen als eine Art legale Korruption. Ärzte würden durch die Honorare in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflusst. Welches Ausmaß dies hat, zeigt nun erstmals eine umfassende Auswertung, die Panorama in Kooperation mit WDR und "Süddeutscher Zeitung" sowie dem Recherchezentrum correctiv.org vorgenommen hat. Allein 2014 nahmen demnach knapp 17.000 Ärzte an mindestens einer Anwendungsbeobachtung teil. Das durchschnittliche Honorar pro Patient: 669 Euro.
Ein Arzt wird in der Regel von einem Vertreter eines Pharma-Unternehmens gefragt, ob er an einer Anwendungsbeobachtung zu einem Medikament, das er ohnehin verordnet, teilnehmen möchte. Er muss dann Daten von der normalen Behandlung - in der Regel Angaben über die Krankengeschichte, das Medikament, auftretende Nebenwirkungen und einige Werte, die bei den üblichen Visiten erfasst werden - an den Auftraggeber weitergeben. Oft laufen solche Beobachtungen dann über mehrere Monate, teils sogar Jahre.
Wissenschaftliches Interesse oder finanzieller Anreiz?
Dellanna hat in den vergangenen Jahren bei mehreren Anwendungsbeobachtungen mitgemacht - unter anderem zu dem blutbildenden Medikament "Mircera" der Firma Roche, einem sogenannten Epo-Präparat. Laut den Unterlagen, die dem Rechercheteam vorliegen, hat der Hersteller ein Honorar von 965 Euro pro Patient gezahlt, für die Übertragung von Daten aus einem Zeitraum von zwei Jahren. Der finanzielle Anreiz spiele jedoch bei ihm keine Rolle, sagt Dellanna. Er mache nur bei solchen Anwendungsbeobachtungen mit, die ihn wissenschaftlich interessieren würde.
Auch der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) teilte auf Anfrage mit, Anwendungsbeobachtungen seien ein "unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung". Denn anders als bei klinischen Studien würden hier Informationen über Arzneimittel unter Alltagsbedingungen gewonnen. Zudem gebe eine Selbstverpflichtung. Sie sehe vor, die Vergütung für die Mitwirkung an einer Studie an der Gebührenordnung für Ärzte zu orientieren, um auszuschließen, dass von Anwendungsbeobachtungen "Verordnungsanreize" für bestimmte Medikamente ausgingen.
"Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet"
Doch genau diesen wissenschaftlichen Nutzen bezweifeln viele Experten. Denn der Erkenntnisgewinn von Anwendungsbeobachtungen ist gering. "Das Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet", sagt Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Die Ergebnisse von Anwendungsbeobachtungen würden eigentlich niemanden interessieren. Denn anders als bei klinischen Studien gibt es bei Anwendungsbeobachtungen in der Regel keine Vergleichsgruppe. Das heißt, niemand kann beurteilen, was passiert wäre, wenn die Patienten kein Medikament bekommen hätten oder ein anderes.
"Honorare sind gefährlich hoch"
Die Pharma-Industrie investiert jedoch viel Geld in diese Datenerfassung - aus Sicht von Windeler allerdings nicht, um die Forschung voranzubringen, sondern um den Absatz ihrer Medikamente zu fördern. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bezeichnet sie gar einmal als "legale Form der Korruption". "Die Honorare stehen in keinem Verhältnis zum Aufwand und sind gefährlich hoch", kritisiert er. Zum Teil werde für das flüchtige Ausfüllen eines Dokumentationsbogens mehr gezahlt als für die gesamte Behandlung. So bestehe ein finanzieller Anreiz für die Ärzte, ein bestimmtes Medikament zu nehmen und nicht etwa ein anderes, vergleichbares Präparat.
Die Analyse der Daten bestätigt offensichtlich diese Kritik: Denn Anwendungsbeobachtungen laufen tatsächlich zu einem großen Teil dort, wo es starke Konkurrenz gibt, wo es zur Behandlung viele vergleichbare Medikamente gibt - beispielsweise bei Kontrastmitteln für Röntgen- oder MRT-Aufnahmen oder bei Krebsmedikamenten oder bei den blutbildenden Epo-Präparaten, die viele Dialysepatienten bekommen.
Mehr als 8.000 Euro für Daten zu 14 Patienten
Der Gießener Internist Stephan Wagner hat an einer solchen Anwendungsbeobachtung zu einem Epo-Mittel teilgenommen, zu Aranesp von der US-Firma Amgen. 583 Euro pro Patient hat er dafür bekommen - für insgesamt 14 Patienten aus seiner Praxis macht das gut 8.000 Euro innerhalb von neun Monaten. Das sei nicht wenig, räumt Wagner ein. Allerdings werde das Geld ja in der Praxis aufgeteilt, der einzelne habe dann nicht so viel davon. Grundsätzlich rechtfertigt er die Teilnahme an der Anwendungsbeobachtung aufgrund der neuen Erkenntnisse zu dem Mittel, die damit gewonnen worden seien.
Der Bremer Professor Bernd Mühlbauer, Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, hat daran jedoch Zweifel. Denn diese Anwendungsbeobachtung zu Aranesp wurde elf Jahre nach der Einführung des Medikaments gestartet. Zu einem solchen Zeitpunkt könne eine Anwendungsbeobachtung eigentlich keine Daten mehr liefern, "die die medizinische Welt noch irgendwie als nützlich empfinden kann“, sagt Mühlbauer. Generell könnten Anwendungsbeobachtungen sinnvoll, allerdings nur in den ersten Jahren nach der Zulassung, um möglicherweise noch weitere, bislang unbekannte Nebenwirkungen aufzuspüren.
Mögliche Bestechung
In der derzeitigen Form halte er Anwendungsbeobachtungen jedoch für eine "große Katastrophe", sagt Mühlbauer. Sie seien fast schon eine Bestechung. Denn der Arzt bekomme letztlich für die Verschreibung eines Medikamentes eine bestimmte Summe. Er neige dann vielleicht eher dazu, dieses Produkt zu geben als ein anderes, vergleichbares, so Mühlbauer.
Keine Kontrolle
Ob eine Anwendungsbeobachtung tatsächlich sinnvoll ist oder vor allem der Verkaufsförderung dient, kontrolliert allerdings niemand. Die Pharma-Unternehmen müssen sie lediglich den zuständigen Behörden melden, nicht jedoch genehmigen lassen. Und Angaben zu den teilnehmenden Ärzten und den Honoraren werden in der Regel nicht veröffentlicht. 2014 liefen laut den vorliegenden Daten mehr als 500 Anwendungsbeobachtungen, einige von ihnen bereits seit mehreren Jahren teils sind Laufzeiten bis über 2020 hinaus angegeben.
Die bisherigen Maßnahmen des Gesetzgebers scheinen also kaum Wirkung zu zeigen. Der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach räumt ein, dass die Regierung in diesem Bereich wohl noch mal ran müsse. Er schlägt eine Genehmigungspflicht für Anwendungsbeobachtungen vor. "Wir müssen erreichen, dass nur die Studien durchgeführt werden, die auch Sinn machen", sagt Lauterbach. Einen entsprechenden Gesetzesvorschlag gibt es allerdings noch nicht.