Stand: 31.08.2016 12:18 Uhr

"'Wir schaffen das' steht noch auf dem Prüfstand"

Ein Jahr ist es her, dass Angela Merkel ihren mittlerweile berühmten Satz "Wir schaffen das" aussprach. Vor einem halben Jahr berichtete Panorama über den Flüchtlingshelfer Wolfgang Frangenberg - er ist einer von denen, die es schaffen wollen: Seit vergangenem Herbst kümmert er sich ehrenamtlich um zwölf Männer aus Syrien, Afghanistan und dem Iran, begleitet sie zur Ausländerbehörde oder zum Jobcenter, organisiert Ausflüge und gibt Deutschnachhilfe. Er erzählte uns von schöne Momenten und positiven Erfahrungen, aber auch von Zweifeln. Was ist aus ihm und seinen Flüchtlingen geworden? Herr Frangenberg hat uns geschrieben.

Sehr geehrte Panorama-Redaktion,

Durch die bisherige Arbeit kommen immer mehr Flüchtlinge mit Problemen, Sorgen und Wünschen auf mich zu. Meine Arbeit ist "mehr" und komplizierter geworden. Die beiden Wohngemeinschaften, in denen die zwölf Männer lebten, sind mittlerweile aufgelöst. Mir ist es für vier von ihnen gelungen, eigene Wohnungen zu finden. Andere leben weiterhin in Behelfsunterkünften. In den vergangenen Monaten haben sich die Männer in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt. Sechs Schicksale:

Wolfgang Frangenberg
Wolfgang Frangenberg hatte im Frühjahr 2016 mit Panorama über "seine" Flüchtlinge gesprochen. Wie sieht es heute aus?

  • Für den kurdischen Familienvater in der Gruppe ist das Erlernen der deutschen Sprache immer noch sehr schwer bis unmöglich. Er hat immer nur einen Gedanken: seine 7-köpfige Familie. Noch vor dem Türkeiabkommen hat er seine Großfamilie mit Schleppern in die griechische Hauptstadt bringen lassen und zahlte 21.000 Dollar für ihre inzwischen gelungene Flucht nach Deutschland. Er bemüht sich jetzt um eine Familienzusammenführung.

  • Ein junger Kurde und sein minderjähriger Neffe haben bei der ersten Anhörung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihren wahren Fluchtweg aus dem Libanon über Abu-Dhabi, Kuweit, Türkei nach Griechenland offenbart. Nun soll eine zweite Anhörung folgen. Für beide gibt es eine mühevoll eingefädelte Berufsperspektive, bestehend aus Sprachkurs und Beschäftigung in einem Metallbetrieb bzw. einer Ausbildung als Automechaniker.

  • Ein junger Pharmazie-Absolvent aus Syrien erfährt vielseitige Förderung auf seinem schwierigen Instanzenweg zur Anerkennung und Ausübung seines Apothekerberufes. Er macht Hospitationen und Praktika in Apotheken, ist aufgrund der nach wie vor schlechten Deutschkenntnisse seiner Kollegen mein "Übersetzer" in wichtigen Dingen. Er wirkt in eigener Wohnung zielstrebiger und integrierter als die meisten seiner ehemaligen Zimmergenossen.

VIDEO: Flüchtlinge und Helfer: Willkommen in der Wirklichkeit (8 Min)

  • Ein junger Familienvater trauert seinem Schicksal und dem seiner Familie nach, die noch immer in Syrien festsitzt. Er würde nicht noch einmal nach Deutschland flüchten - sagte er mir. Er lebt in einem leeren Hotelzimmer zusammen mit anderen Flüchtlingen. Er zieht sich mehr und mehr zurück und hat keine berufliche Perspektive.

  • Ein stiller und meist sehr reserviert wirkender unverheirateter Syrer, den die "Freiheit und die gesetzmäßige Ordnung" Deutschlands zur Flucht aus seinem rechtlosen Land bewegte, hat sich stark verändert. Er hat den Kontakt innerhalb der Gruppe nach immer stärker werdendem Alkoholkonsum verloren, begab sich alkoholisiert in Prügeleien und steht im Augenblick nach Sperrung seines Sparkassenkontos vor einer neuen Prüfung durch die Behörde. Er wird mittlerweile von der Gruppe verlacht und auch abgelehnt.

  • Ein afghanischer BWL-Absolvent , der "fleißigste" meiner Burschen, befürchtet aufgrund der zugespitzten und restriktiveren Flüchtlings- und Anerkennungspolitik seine Abschiebung. Wir bemühen uns um einen Anwalt und mit Hochdruck um eine Lehrstelle, um auf zwei Gleisen gegen die drohende Abschiebung fahren zu können. Er bewohnt ein sehr schönes Apartment und zeigt deutliche Angst vor der Abschiebung.

Weitere Informationen
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Flüchtlinge und Helfer: Willkommen in der Wirklichkeit

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Sowohl die Syrer als auch die Iraner und Afghanen müssen wegen der Äußerungen vom Innenminister mit einer Abschiebung in die angeblich krisensicheren Regionen ihrer Heimat rechnen. Die mir in Gesprächen geäußerte Angst wächst und damit auch der Plan, in einem solchen Fall abzutauchen, um der Abschiebung zu entgehen.

Überraschende Klage gegen die Bundesrepublik

Irgendetwas muss sich rumgesprochen haben, ich weiß nicht genau, woher die Idee dazu kam. Ich war jedenfalls sehr überrascht, als ich erfuhr, dass gleich mehrere unserer Lemgoer Flüchtlinge die Bundesrepublik vor dem Verwaltungsgericht in Minden auf Untätigkeit verklagten - wegen des noch nicht begonnenen oder abgeschlossenen Asylverfahrens. Das hatten sie mit niemandem abgesprochen und uns nicht eingeweiht! Ich und andere Helfer schalteten daraufhin schnell die "Lemgoer Flüchtlingshilfe" ein, die nach Rücksprache mit Rechtsanwälten dringend zur Klagerücknahme riet. Dies geschah dann auch weitgehend und komplikationslos.

Strengere Auswahlverfahren

Nach den mir vorliegenden Berichten wird bei syrischen Flüchtlingen sehr dezidiert der Fluchtgrund und seine Umstände erfragt. Die meisten syrischen Flüchtlinge erhalten seit Neuestem wohl nur noch eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, was den von vielen Syrern erhofften Familiennachzug unmöglich macht. Als Folge davon gibt es bei meinen Bekannten erste Ankündigungen, bei einer derartigen Entscheidung die Rückkehr nach Syrien zu den Familien anzustreben, weil sie in Deutschland keine Perspektive sehen. Und das, obwohl sie mit der Wiedereinreise in Syrien die Verhaftung befürchten. Weil mir diese fatale Haltung nach allem, was wir gemeinsam erlebt und erarbeitet haben, sehr voreilig und unüberlegt vorkommt, bemühe ich mich im Augenblick um mehr Informationen durch Flüchtlings-Fachkreise.

Der Merkel-Satz "Wir schaffen das" steht für mich immer noch auf dem Prüfstand. Wir können den Gekommenen nur dann eine wirksame und ländereinheitliche Integration anbieten, wenn entsprechende gesetzliche und finanzielle Bundesvorgaben vorliegen.

Mit freundlichen Grüßen,

Wolfgang Frangenberg

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.03.0016 | 21:44 Uhr

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