Stand: 14.08.2015 14:30 Uhr

Kos: Griechische Tragödie - Europas Schande

von Christoph Lütgert
Christoph Lütgert © NDR Foto: v. Tevenar
Christoph Lütgert ist über das Versagen Europas auf Kos empört.

Erst vor wenigen Wochen durften und mussten wir den Menschen auf Kos Bewunderung zollen: Damals bewältigten sie den Ansturm der Flüchtlinge Tag für Tag mit gelassener Selbstverständlichkeit und einem Höchstmaß an Empathie. Wir drehten eine Reportage für "Panorama - Die Reporter" über die griechische Finanzkrise. Und wir bestaunten, wie die Griechen von Kos den nicht enden wollenden Strom der Flüchtlinge aufnahmen, beherbergten und versorgten.

Wir konnten dokumentieren, dass die Griechen jenes Europa beschämten, das ihr Land mit einer verhängnisvollen Austeritätspolitik seit Jahren überzog. Immer am Rande ihrer Leistungsfähigkeit wurde die Administration von Kos mit dem gewaltigen Flüchtlingsproblem fertig, mehr schlecht als recht, aber immerhin - ohne Hilfe von außen. Spontan hatte sich eine Bürgerinitiative gebildet, die Essen und Kleidung für die hunderte oder tausende Menschen organisierte, die jede Nacht über das Mittelmeer kamen.

VIDEO: Trotz eigener Not : Griechen helfen Flüchtlingen (5 Min)

Alle unsere Werte stehen auf dem Spiel

Und jetzt ist alles ganz anders: Abend für Abend müssen wir in den Fernsehnachrichten mitansehen, wie der Massenandrang der Flüchtlinge auf Kos alles zunichtegemacht hat, was doch so vorbildlich war. Die Lage scheint außer Kontrolle. Die Zahlen der Neuankömmlinge sprengen alle verkraftbaren Dimensionen, eine hilf- und konzeptionslose Führung auf Kos wie in Athen lässt der Polizei vor Ort offenkundig keine andere Wahl, als wild auf die Flüchtlinge einzuprügeln, wenn die, in brüllender Hitze eingepfercht, rebellieren. Es fehlt an allem: Strom, Wasser, sanitären Anlagen, administrativer Expertise, Unterkünften, vernünftigem Essen.

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth ist nach Kos geflogen, andere deutsche Politiker sollten es ihr gleichtun. Denn die Grünen-Politikerin erweitert die Perspektive. Und das ist bitter notwendig - für die Flüchtlinge, die Griechen und für unsere eigene Glaubwürdigkeit. "Ich habe mich geschämt", sagte sie, "weil das mitten in Europa für Menschen, die schon so viel Elend hinter sich haben, die Hölle auf Erden bedeuten muss. Ich habe mich gefragt, mit welchem Recht hat Europa den Friedensnobelpreis verdient, mit welchem Recht redet Europa von Werten, wenn mitten in Europa, in Griechenland, die Menschen so behandelt werden."

Wann machen wir unsere "Hausaufgaben"?

"Mitten in Europa" ... das ist es. Da fragt man sich als - zugegeben - finanzpolitischer Laie, wäre es nicht wichtiger, dringlicher, dass europäische Regierungen - die deutsche vorneweg - jetzt erst mal nicht mit Athen um irgendwelche Milliarden-Tranchen schachern? Wäre es nicht angezeigt, die gnadenlose und rechthaberische Austeritätspolitik à la Wolfgang Schäuble auszusetzen oder zu mildern und stattdessen viel stärker bei der Bewältigung der griechischen Flüchtlingskatastrophe zu helfen?

Deutsche Politiker haben jahrelang schulmeisterlich rumgedröhnt, die Griechen sollten "endlich ihre Hausaufgaben machen". Wann wollen diese Besserwisser "endlich ihre Hausaufgaben machen"? Denn das griechische Flüchtlingsdrama ist ein gesamteuropäisches Drama.

Was wäre bei uns los?

Schlussbemerkung: Allein in den letzten Tagen sind auf Kos nach offiziellen Angaben mehr als 7.000 Flüchtlinge angekommen. Kos hat an die 34.000 Einwohner. Im reichen Hamburg leben 1,7 Millionen Menschen. Die Relation von Kos hochgerechnet würde das für die Hansestadt bedeuten, dass in kurzer Zeit über 300.000 Flüchtlinge die Elbe hochgepaddelt kämen. Unvorstellbar? Auf Kos ist so was bittere Realität. Und bei uns jammern manche gut situierten Bürger und Lokalpolitiker, wenn in ihrer Nähe ein paar Dutzend Flüchtlinge untergebracht werden sollen.

Weitere Informationen
Ach, Griechenland © NDR Foto: Pia Lenz

Griechenland - Tragödie mit Ansage

Klientelpolitik, Korruption und Schlendrian sind die Ursachen eines beispiellosen Niedergangs. Und das Volk, das am wenigsten für die Misere kann, wird ins Massenelend getrieben. mehr

Zu sehen sind Flüchtlinge, die über das Mittelmeer aus ihrem Heimatland nach Europa geflüchtet sind. © picture alliance/NurPhoto Foto: Dimitrios Chantzaras

Kos wartet auf die Fähre

Nach wie vor hat sich die Situation auf der griechischen Ferieninsel Kos nicht verbessert. Abhilfe soll nun eine Fähre bringen. extern

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 25.06.2015 | 21:45 Uhr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Das Panorama-Archiv

Alle Panorama-Beiträge seit 1961: Stöbern im Archiv nach Jahreszahlen oder mit der Suchfunktion. mehr

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr