Stand: 26.09.2018 10:38 Uhr

Was es bedeutet, taub zu sein

von Lisa Wolff

Gehörlose erleben die Welt grundlegend anders als Hörende: Sie werden niemals von tieffliegenden Flugzeugen oder Polizeisirenen geweckt. Den Frühlingsanfang erleben sie ohne Vogelgezwitscher - und wenn ein Sitznachbar in der Bahn lautstark telefoniert, können sie trotzdem entspannt ein Buch lesen. Die meisten Hörenden fragen sich: Fehlt ihnen denn nichts? Die Antwort lautet: Nein.

Über Antonias Bett hängt eine große Weltkarte. Die 24-Jährige war schon viel unterwegs. Sie ist durch Vietnam und Kambodscha getourt und gerade für zehn Wochen durch Indien gereist. Ob sie als Gehörlose etwas Besonderes beachten müsse beim Reisen? Antonia denkt kurz nach. "Nö, eigentlich nicht." Höchstens ihr Vibrationswecker, der aussieht wie eine Armbanduhr, müsse mit ins Gepäck. Dass Antonia taub ist, spielt beim Reisen keine Rolle. Trotzdem hätten Hörende oft das Vorurteil, dass Gehörlosen etwas fehle, erzählt sie.

"Als Kind dachte ich, alle Menschen seien taub"

Antonia ist in München aufgewachsen. Ihre Eltern und ihre beiden Brüder sind ebenfalls taub. Gebärdensprache ist Antonias Muttersprache. "Als Kind dachte ich, dass alle Menschen gehörlos sind, einfach weil es bei mir in der Umgebung so war", erinnert sie sich. "Ich hatte das Gefühl, dass ich in der U-Bahn und im Straßenverkehr überall Leute gesehen habe, die gebärden, von daher war mir das früher einfach gar nicht so bewusst, dass das nicht alle Menschen machen." Antonia ist eine selbstbewusste, junge Frau - und sozial engagiert. In ihrer Freizeit betreut sie taube Geflüchtete, unterstützt hörende Eltern, die ein taubes Kind bekommen haben - und sie ist Vorsitzende von "iDeas", einer Interessenvertretung für taube Studierende an der Uni Hamburg. Außerdem schreibt sie gerade an ihrer Bachelor-Arbeit in Psychologie.

Gehörlos - viel mehr als eine medizinische Definition

Aus medizinischer Sicht ist man ab einer Hörschwelle von etwa 90 Dezibel taub - das bedeutet, man kann bestenfalls noch Geräusche in der Lautstärke eines Presslufthammers wahrnehmen. Das Resthörvermögen ist aber bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Gehörlos zu sein, bedeutet aber viel mehr als nur eine medizinische Definition. Es heißt auch, zu einer ganz eigenen Kultur zu gehören, der Gehörlosenkultur. Vor allem die Gebärdensprache verbindet die etwa 80.000 gehörlosen Menschen in Deutschland. Sie haben ihr eigenes Gebärdensprachtheater, Deaf Poetry Slams oder Gehörlosen-Sportvereine - um hier nur ein paar Beispiele zu nennen. Hörende, die keine Gebärdensprache beherrschen, finden nur schwer Zutritt zu dieser Welt.

Taub sein - eine unsichtbare Behinderung

Antonia kann unzählige Alltagssituationen beschreiben, in denen hörende Menschen komisch auf sie reagieren. Wenn sie zum Beispiel am Supermarktregal angesprochen wird und signalisiert, dass sie nichts hört: "Meistens entschuldigen sich die Leute dann, drehen sich um - und schwupps, sind sie auch schon wieder weg." Dabei würde sie sich wünschen, dass die Menschen sich kurz Zeit nehmen, ihre Frage noch einmal langsam zu stellen oder am besten einfach aufzuschreiben.

"Gehörlos" gebärdet man übrigens, indem man seinen ausgestreckten Zeigefinger vom Ohr zum Mund führt. Die wenigsten Menschen wissen das. "Es ist ja eine relativ unsichtbare Behinderung", sagt Antonia. "Deshalb wissen viele Leute nicht, damit umzugehen." Dabei sieht sich Antonia gar nicht als behindert an. "Behindert oder nicht behindert, das ist ein Punkt, der mich gar nicht beschäftigt", erzählt sie. "Ich merke das erst, wenn ich in Interaktion gehe, wenn ich in der Gesellschaft bin. Dann werde ich behindert." Das geht schon los mit Durchsagen am Bahnsteig, fehlenden Untertiteln im Fernsehen - oder Dozierenden an der Uni, die fragen, ob Antonias Dolmetscherinnen wissenschaftliche Fragestellungen korrekt übersetzen können.

Sprachliche Nuancen: "taub" oder "gehörlos"?

Antonia benutzt übrigens lieber den Begriff "taub" anstelle von "gehörlos". "Ich finde, 'taub' einfach positiver. 'Gehörlos' ist immer so auf den Mangel fokussiert." Jeder handhabt das aber anders. Die 23-jährige Bella zum Beispiel benutzt eher "gehörlos" - aus Gewohnheit. Nur "taubstumm" ist tabu. Dieser Begriff wird als diskriminierend empfunden, denn Gehörlose sind nicht stumm. Sie können sich genauso verständlich machen wie Hörende, nur eben in einer anderen Sprache.

"Du hörst die Bewegungen des Wassers, ich sehe sie"

Bella steht in der Hamburger Speicherstadt an einem Fleet und blickt aufs Wasser. "Du hörst die Bewegungen des Wassers, ich sehe sie." Bella studiert Pädagogik an der Uni Hamburg und ist wie Antonia seit ihrer Geburt taub. "Gehörlose Menschen haben eine grundsätzlich andere Wahrnehmung als Hörende", verdeutlicht sie. "Vor allem das Visuelle hat eine viel größere Bedeutung für uns." Gehörlose besitzen zum Beispiel ein viel größeres Sichtfeld als Hörende. Selbst kleinste Bewegungen an der Peripherie können sie noch wahrnehmen. Aber auch das Körpergefühl ist bei tauben Menschen viel feiner ausgeprägt: So nehmen sie zum Beispiel Musik durch die Bässe wahr. Sie spüren Schritte auf dem Boden oder einen leichten Luftzug, wenn jemand den Raum betritt - oder sie bemerken die Vibrationen eines Staubsaugers. Hörende müssen sich also von dem Gedanken befreien, dass ihre Art der Wahrnehmung die einzig Wahre sei.

Wie Gehörlose sprechen lernen

Bella und Antonia haben beide sprechen gelernt, als sie klein waren. Sie besuchten damals eine Logopädin. "Das waren so spielerische Ansätze, meine Stimme zu benutzen und nicht gehemmt zu sein, sie einzusetzen", erzählt Antonia. Für ein gehörloses Kind, das sich selbst nicht hören kann und auch gar nicht weiß, wie seine Stimme klingt, ist das Sprechen lernen natürlich viel schwieriger als für ein hörendes Kind. Es muss sich die Lautsprache technisch aneignen und genau wissen, wie man einen Laut bildet und welche Sprechwerkzeuge man dafür einsetzen muss, also welche Rolle Mund, Lippen, Atmung oder Stimmbänder spielen. "Am Anfang hatte ich da total Spaß dran und habe mich immer gefreut, zu den Terminen zu kommen", erinnert sich Bella. "Dann hatte ich meine Hörgeräte dabei und konnte darüber steuern, was ich richtig gemacht habe." Doch sowohl für Bella als auch für Antonia bleibt die Gebärdensprache immer ihre Muttersprache. Mit ihr fühlen sie sich am wohlsten und können sich am natürlichsten ausdrücken.

Warum sich einige entschließen, gar nicht zu sprechen

Trotzdem ändert sich an der Situation in deutschen Gehörlosenschulen nur langsam etwas. Antonia hat ihr Abitur in Essen absolviert - und auch an ihrer Schule seien viele Lehrer nicht gebärdensprachkompetent gewesen, erzählt sie. "Es gab Situationen, in denen ich gebärden wollte und die Lehrer gesagt haben, wenn ich meine Stimme nicht benutze, dann gebärden sie auch nicht mit mir. Aber ich spreche nicht so deutlich wie Hörende und werde oft nicht verstanden. Automatisch bin ich dann herabgesetzt, nicht mehr auf Augenhöhe." Vor ein paar Jahren hat Antonia deshalb beschlossen, gar nicht mehr zu sprechen.

Gebärdensprache: Gleichberechtigung nur auf dem Papier?

2002 wurde die Gebärdensprache in Deutschland als offizielle Sprache anerkannt. Gehörlose Menschen haben deshalb ein Recht auf kostenfreie Dolmetscherunterstützung bei Arztbesuchen, Behördengängen oder Gerichtsverhandlungen. In der Realität ist man von echter Gleichberechtigung aber noch weit entfernt. Bei stationären Krankenhausaufenthalten weigern sich beispielsweise die Kassen, die Kosten zu übernehmen.

Ein weiteres Beispiel ist das Studium: Antonia und Bella studieren an der Uni Hamburg mit der Unterstützung von Gebärdensprachdolmetschern. Damit die Kosten übernommen werden, müssen sie einen Antrag auf Eingliederungshilfe beim Sozialamt stellen. Antonia musste auch schon mal ein ganzes Semester auf die Bewilligung warten - die Rechnungen der Dolmetscher gehen aber direkt an die gehörlosen Studierenden. Und das ist nicht wenig: Gebärdensprachdolmetscher kosten pro Stunde 75 Euro, für jede Veranstaltungen benötigt man immer zwei Dolmetscher, die sich abwechseln. So kommen in einem Semester schon mal bis zu 70.000 Euro zusammen.

Geld ansparen ist nicht möglich

Wer vermögend ist, musste in Hamburg bis zum letzten Jahr die Dolmetscher aus eigener Tasche bezahlen. "Ich durfte nicht mehr als 2.500 Euro besitzen", erzählt Antonia. Sie hätte gerne mal etwas Geld für einen längeren Urlaub angespart. Das war nie möglich. "Ich kenne jemanden, dessen Mutter ist während des Studiums verstorben, die hat ihm ein Erbe hinterlassen - und das Erbe ist dann vom Sozialamt eingezogen worden. Er hat von dem Erbe nichts gehabt."

Antonia kritisiert vor allem, dass die tauben Studierenden das Budget für die Dolmetscher selbst verwalten müssen. "Ich bekomme die Rechnungen zugeschickt, muss sie prüfen und überweisen. Auf meinem Konto befindet sich sehr, sehr viel Geld, aber das ist nicht meins." Gerade für Erstsemester ist das eine echte Überforderung. "Das ist nicht fair", bekräftigt Antonia. "Die gehörlosen Studenten haben wirklich erschwerte Bedingungen. Und die werden doppelt erschwert, wenn man sich die ganzen Sozialamtsbedingungen noch mal anschaut."

Gebärdendolmetscher: Kosten werden nicht immer übernommen

Die Sprecherin für Behindertenpolitik der Grünen, Corinna Rüffer, hat im März 2018 eine Kleine Anfrage an den Deutschen Bundestag gerichtet. Es ging um die Situation gehörloser Menschen in Deutschland. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass bis heute kein einziger Gehörloser am Bundesfreiwilligendienst teilgenommen hat. Denn die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher werden nicht übernommen. Es gibt also in Deutschland noch viel zu tun in Sachen Gleichberechtigung.

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Dieses Thema im Programm:

7 Tage | 02.12.2020 | 23:50 Uhr

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