Stand: 25.09.2018 13:47 Uhr

Tils Geschichte. Ein Leben mit Hörimplantat

von Lisa Wolff

Der 23-jährige Til kam taub zur Welt. Seine Eltern sind beide hörend. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr konnte sich Til kaum verständigen. Die Ärzte hatten den Eltern abgeraten, mit dem Sohn in Gebärdensprache zu kommunizieren. Til trägt heute ein Cochlea-Implantat, eine elektronische Innenohrprothese. Sie gilt unter vielen Medizinern als Allheilmittel, um hörgeschädigten Menschen das Hören zu ermöglichen. Til hat davon Tinnitus bekommen.

Zwei junge Männer sitzen an einem Esstisch. © NDR/7Tage
Til (l.) fühlt sich in Gebärdensprache zu Hause, obwohl er seit seiner Kindheit Cochlea-Implantate trägt.

Das Abendessen duftet hervorragend. Es gibt Gnocchi mit Mangold und Ricotta. Til, Antonia, Peter und Bernadette machen es sich auf den knautschigen Sofas am Küchentisch bequem. Ein gemütlicher WG-Abend im Studentenwohnheim am Berliner Tor in Hamburg. Gebärdensprache ist hier Alltagssprache. Alle am Tisch sind von Geburt an gehörlos. "Ich war heute am Institut für Cochlea-Implantate in Hannover", erzählt Til den anderen beim Essen. "Die haben gesagt, ich würde viel schlechter sprechen und hören als vor zwei Jahren."

Seit Til acht Jahre alt ist, trägt er ein Cochlea-Implantat (CI). Seitdem muss er regelmäßig nach Hannover zur ärztlichen Kontrolle. Für die Operation hat er sich damals nicht selbst entschieden. Es waren seine Eltern, die nur das Beste für ihr Kind wollten. Und dem Rat der Ärzte folgten.

Wenn hörende Eltern gehörlose Kinder bekommen

"Meine Familie ist komplett hörend", erzählt Til. "Nur meine Schwester und ich sind gehörlos auf die Welt gekommen. Als meine Eltern das erfahren haben, waren sie total überfordert, schockiert und völlig verzweifelt." Die Ärzte empfehlen den hilflosen Eltern damals, Til und seine Schwester mit einem Hörgerät zu versorgen und zur Logopädie zu schicken. "Sprechen üben, Sprechen üben, Sprechen üben", so habe das Credo der Ärzte gelautet. Als Tils Mutter nach Gebärdensprache fragt, winken die Ärzte ab. "Nein, nein, Gebärdensprache taugt überhaupt nichts. Das ist nur was für Deppen, und da kommt ihr Sohn niemals ins Leben."

"Ich habe eigentlich immer nur haptisch agiert"

Trotz Logopädie lernt Til nur sehr schwer Sprechen. "Mein erstes Wort war 'alle'. Da war ich knapp drei Jahre alt", erinnert er sich. "Wenn Verwandte und Freunde mich etwas gefragt haben oder mit mir reden wollten, habe ich nichts mitbekommen. Ich hab' mich nicht für Sprache interessiert. Ich hab' nichts gehört, obwohl ich ja trainiert worden bin, und ich habe auch nicht geantwortet. Ich habe eigentlich immer nur haptisch agiert." In seinen ersten Lebensjahren kann sich Til mit seinen Eltern nur über die lebensnotwendigen Dinge verständigen: essen, trinken, zur Toilette gehen. Als Til acht Jahre alt wird, entscheiden seine Eltern dann, dass er ein Implatat bekommen soll.

Cochlea-Implantat: Elektrische Impulse stimulieren den Hörnerv

Ein Cochlea-Implantat ist eine elektronische Hörprothese, die einen akustischen Reiz in ein elektrisches Signal umwandelt und in den Hörnerv im Innenohr leitet. Dazu wird eine Mulde in die Schädeldecke gefräst, in die das Implantat eingepflanzt wird - und eine Elektrode bis in die Hörschnecke im Innenohr geführt. Außen am Kopf sitzt ein Soundprozessor mit Mikrofon, der die Schallwellen aufnimmt und an das Implantat weiterleitet. Das Implantat wiederum übersetzt die Signale in elektrische Impulse, die den Hörnerv stimulieren. So entsteht im Gehirn dann ein Höreindruck.

Das Cochlea-Implantat verstärkt jedes Geräusch

"Alle glauben ja, mit einem Cochlea-Implantat kann man hören wie jeder andere Mensch auch", erzählt Til. "So ist das aber nicht." Denn durch das Implantat werde jedes Geräusch verstärkt, auch das Ticken einer Uhr an der Wand. "Hörende Menschen können wichtige von unwichtigen Geräuschen unterscheiden", sagt Til. "Das kann ich nicht. Ich muss mich total darauf konzentrieren, dieses 'Ticktack' auszublenden. Und das ist wahnsinnig anstrengend."

Vor allem auf Partys oder in großen Gruppen ist es für ihn fast unmöglich, Gespräche zu verfolgen. "Nur wenn sich die Leute Mühe geben und ich mir auch noch ganz viel Mühe gebe, dann klappt es. Aber es ist äußerst schwierig, mich in einer Gruppe mit Hörenden adäquat zu bewegen. Es ist ein Trugschluss, dass ich mich komplikationslos integrieren könnte." Auch wenn die Implantation mittlerweile als Routineeingriff gilt, sie birgt Risiken. Til leidet seit einigen Jahren unter starkem Tinnitus.

"Mit Gebärdensprache fühle ich mich frei"

Mit zwölf Jahren ändert sich Tils Leben schlagartig: Er wechselt auf die Realschule nach Dortmund, eine Schule für Hörgeschädigte. Dort kommt er das erste Mal mit Gebärdensprache in Kontakt. "Fast alle um mich herum haben in Gebärdensprache kommuniziert. Das war ein totaler Kulturschock!" Durch seine Mitschüler lernt Til schließlich auch zu gebärden - und kann sich so zum ersten Mal komplett ungezwungen ausdrücken. "Mit Gebärdensprache fühle ich mich frei", sagt er. Til und seine Schwester sind bis heute die einzigen in der Familie, die sich in Gebärdensprache unterhalten.

Fröhlich und ausgelassen dank Gebärdensprache

Als Til 2016 seinen Abiball feiert, führen die Schüler den Eltern und Verwandten ein Abschlussvideo vor. Tils Mutter sieht ihren Sohn zum ersten Mal in Gebärdensprache kommunizieren. Er ist fröhlich und ausgelassen. Ganz anders als zu Hause. "In der Familie bin ich eher introvertiert, zurückgezogen und versteckt", erzählt Til. "Aber das war ich in dem Video eben nicht. Da ging es um Freundschaft, um Spaß - um Leben. Das komplette Gegenteil zu dem, wie ich zu Hause bin." Das habe seiner Mutter ziemlich zugesetzt. Sie bereut es heute, dass sie damals ihren Kindern den Zugang zur Gebärdensprache verwehrt hat. "Meine Mutter meinte dann: 'Ich zwinge dich nicht weiter, hören zu müssen und Sprachtraining zu machen. Das quält dich nur und du wirst immer alleine sein. Also such dir deinen Weg.'" Das hat Til gemacht.

"Ich bin nicht mehr müde, ich bin nicht mehr angestrengt"

Er studiert mittlerweile im zweiten Semester Philosophie an der Uni Hamburg und hat ein freiwilliges soziales Jahr in Uganda absolviert. Sein CI ist ihm zwar eine Hilfe, sich in der Hörenden-Welt zurechtzufinden, aber seitdem er die Gebärdensprache habe, gehe es ihm viel besser, sagt er. "Mein HNO-Arzt meinte letztens, ich müsse mehr Sprechen üben und das Hören trainieren. Ich meinte dann zu ihm: 'Ey, Alter, ich studiere, mir geht's mega gut und vor allem geht's mir körperlich viel besser. Ich bin nicht mehr müde, ich bin nicht mehr angestrengt, ich habe kein Kopfweh mehr.' Und die ganze Belastung, die ich im Hören und Sprechen empfunden habe, ist weg. Er meinte: 'Ja, du müsst üben.' 'Nee', sagte ich. 'Muss ich nicht.'" Tils Mutter ist stolz auf ihren Sohn. Und versucht nun auch Gebärdensprache zu lernen.

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Dieses Thema im Programm:

7 Tage | 02.12.2020 | 23:50 Uhr