Seekarten für die Rundfunk-Kapitäne
Die praktische Arbeit der NWDR Hörerforschung vollzog sich vor dem Hintergrund einer lebhaft geführten Methodendiskussion. Wolfgang Ernst positionierte seine Abteilung mit einem profilierten Ansatz. Er betonte den Methoden-Mix und die Kombination von Arbeitsweisen. "Keine der entwickelten Methoden der Hörerforschung ist ideal", beteuerte er in der Zeitschrift "Rundfunk und Fernsehen".
Seine Arbeit stützte sich auf quantitative Messungen mit Hilfe von technischen Instrumenten, auf Repräsentativ-Befragungen durch ein eigenes Netz von Interviewern und schriftliche Befragungen bei speziellen Hörergruppen sowie auf die Studio-Tests. Ernst legte offen, dass "keine dieser vier Methoden, allein angewendet, ideale Ergebnisse zu liefern vermag" und dass erst die Kombination dieser verschiedenen Arbeitsweisen es erlaube, "die wirklichen Verhältnisse so genau wie möglich ermitteln zu können."
Wie ein Kartograph
Darüber hinaus gelang Wolfgang Ernst zweierlei: Er verhalf der Hörerforschung zu einem ausgeprägten Selbstverständnis und verstand es, dieses in sehr geschickter Weise den Programm-Verantwortlichen zu vermitteln. Immer wieder betonte er, dass die Hörerforschung keine Rezepte vorgebe, sondern Hinweise liefere: "Wir referieren über Verhalten und Meinungen der Hörerschaft. Vielleicht mag das eine oder andere der Ergebnisse von einem bestimmten ästhetischen, literarischen Standpunkt aus abwegig erscheinen, das ändert nichts an der Tatsache, dass die dargestellten Verhaltensweisen bei der Hörerschaft als Realität vorhanden sind und daher für jede wirklich verantwortungsbewusste Rundfunkarbeit Berücksichtigung finden müssen."
Aber dem selbstbewussten Anspruch stehe eine explizit dienende Funktion gegenüber, mit der sich die Hörerforschung bescheide. Ernst wählte dafür einen maritimen Vergleich. "Die Hörerforschung muss eine Art 'Seekarte' für den Rundfunk erstellen, in der Strömungen aufgezeichnet sind, Untiefen, Sandbänke und Eisberge vermerkt sind. Eine Seekarte hat noch niemals einen Kurs diktiert, es bleibt den Steuerkünsten des Kapitäns überlassen, welchen Kurs er an Hand der Seekarte steuern will. Niemand hindert ihn, gegen die Strömung zu laufen, die Fahrt wird allerdings langsamer - direktes Auflaufen auf einen Eisberg aber bringt die meisten Schiffe zum Sinken."
Gegen den nivellierten Massengeschmack
Die kluge und umsichtige Strategie ging zunächst auf. Bis zur Auflösung des NWDR Ende 1955 entstand eine Hörerforschung auf hohem methodischem Niveau. Doch viele Programmmacher hatten noch Schwierigkeiten, die Ergebnisse im Programmalltag umzusetzen. Zu groß erschien ihnen die Gefahr, sich den Publikumswünschen anzupassen und mit ihren Programmen einem nivellierten Massengeschmack zu entsprechen.
In den Jahren 1956 bis 1963 gab es so gut wie keine Forschung. Erst mit der Messung der Fernsehnutzung, die 1963 mit dem Start des ZDF eingeführt wurde, und der "Media-Analyse", die seit 1972 die Radionutzung erhebt, setzte sich das Interesse an einer systematischen Medienforschung endgültig durch.
- Teil 1: Die Anfänge der Medienforschung
- Teil 2: Annäherung an den Hörer