Stand: 17.05.2012 11:44 Uhr

Mit Blick aufs Meer - Jahrestreffen der "Gruppe 47"

von Heiner Herde

Im Mai 1952 findet in Niendorf an der Ostsee die fünfte Tagung der "Gruppe 47" statt, dem wichtigsten Forum der Dichter, Schriftsteller, Verleger und Literaturkritiker im Nachkriegsdeutschland. An ihrem Zustandekommen hatte Ernst Schnabel, selbst Mitglied der Gruppe und zu der Zeit Intendant des NWDR, großen Anteil. Schnabel, der mehrere, vielbeachtete Texte veröffentlicht hatte, war zunächst Chefdramaturg, dann Leiter der Abteilung Wort und schließlich, von 1951 bis 1954, Intendant des NWDR.

Erholungsheim als Tagungsort

Eine Schwarzweißaufnahme von Ernst Schnabel vor einem Flugzeug © NDR
Ernst Schnabel, Schriftsteller und Intendant des NWDR.

Seit 1947, daher auch der Name der Gruppe, lud der Schriftsteller Hans-Werner Richter Kolleginnen und Kollegen zum alljährlichen Gedankenaustausch ein, vor allem aber zur Lesung neuer Texte mit anschließender gegenseitiger Kritik. In der literarisch interessierten Öffentlichkeit fanden die Tagungen stets große Aufmerksamkeit, auch wegen der oft heftigen Diskussionen und Auseinandersetzungen unter den Teilnehmern.

Eine schwarzweiß-Aufnahme eines Hotels direkt am Stand
In diesem ehemaligen Hotel an der Ostsee fand das Literatentreffen statt.

Als NWDR-Intendant Ernst Schnabel Richter das Angebot machte, die Jahrestagung 1952 in einem Erholungsheim des NWDR zu veranstalten, griff Richter sofort zu, nicht zuletzt aus Kostengründen. Schließlich waren die Literaten Anfang der 50er-Jahre nicht gerade auf Rosen gebettet. Der NWDR hatte 1950 in Niendorf an der Ostsee das nach der Räumung von Flüchtlingen leerstehende "Hotel Kasch" als Erholungsheim für seine Mitarbeiter angemietet und auf seine Kosten renoviert. Hierhin lud Richter nun zum Jahrestreffen vom 23. bis 25. Mai 1952 ein.

Auf an die Ostsee

Ein Raum mit Tischen und Clubsesseln in einem Hotel
Der Clubraum im Hotel Kasch (1951). Das Hotel wurde vom NWDR als Erholungsheim für die Mitarbeiter angemietet.

45 Zusagen zur Teilnahme in Niendorf erhielt Richter. Auf der Teilnehmerliste fanden sich solch illustre, noch heute bekannte Namen wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Paul Celan, Günter Eich, Walter Jens, Karl Krolow und Siegfried Lenz. Zur Vorbereitung der Tagung fuhren Toni Richter, die Frau von Hans-Werner Richter, und ein Mitarbeiter des Senders nach Niendorf, um das Haus für das Eintreffen der Gäste vorzubereiten, da ja noch Vorsaison war. Für die Anreise der Teilnehmer selbst stellte der NWDR einen Omnibus zur Verfügung. Er sammelte die süddeutschen und österreichischen Gruppenmitglieder in München ein, um dann über Frankfurt, wo es eine weitere Zustiegsmöglichkeit gab, nach Niendorf zu fahren.

Aichinger gewinnt "Preis der Gruppe 47"

Auch in Niendorf galt die von Anfang an gepflegte Tagungsdramaturgie. Im "Klubraum" saßen der Autor oder die Autorin auf einem kleinen Podium, daneben Hans-Werner Richter als eine Art Sitzungspräsident, der einige wenige Einführungsworte sagte. Dann begann die Lesung und sofort danach eröffnete Richter die Gruppendiskussion.

Eine kleine Gruppe: eine junge Frau und zwei Männer stehen für ein Foto zusammen © picture-alliance / dpa
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.l.).

Dabei ging es mal um Handwerkliches, mal um Inhalte, stets kritisch im Hin und Her der Meinungen. Der oder die Vorlesende hatten zu schweigen, mussten die Kritik über sich ergehen lassen. Wer die Kritik nicht wortlos hinnahm und sich wehrte, musste damit rechnen, von Richter nicht mehr eingeladen zu werden. Ilse Aichinger erinnert sich daran so: "Wenn es auch sehr kontrovers zuging, man oft in einem Atem beschimpft, hochgelobt, über oder dem mittleren Durchschnitt eingestuft wurde, … so kam man doch immer erheitert, oft glücklich zurück."

Nach Ilse Aichingers Lesung aus ihrer "Spiegelgeschichte" klatschten die Zuhörer Beifall, was von Richter sofort unterbunden wurde. Aber am Ende erhielt sie den zum dritten Mal vergebenen und immerhin mit 2.000 Mark dotierten "Preis der Gruppe 47". Ihr Konkurrent um den Preis war Walter Jens, der bei der ersten Wahl durch das Auditorium zwei Stimmen weniger erhielt, in der Stichwahl dann jedoch deutlich unterlag. Mit dem Preisgeld ging Aichinger, wie sie später erzählte, nach ihrer Rückkehr nach Wien ins Pfandhaus, um den dort eingelagerten Wintermantel ihrer Mutter auszulösen.

Downloads

Literatur trifft Literaten: Gruppe 47

Autorenbeiträge von Hans Werner Richter und Ernst Schnabel zur Gruppe 47. Download (11 MB)

Die Tagung endete mit einem fröhlichen Beisammensein, bei dem der Verleger Ernst Rowohlt ein durch die Firma Osram gespendetes Paket von 500 Glühbirnen für 300 Mark ersteigerte. Er legte anschließend noch 900 Mark drauf, wodurch der Abend einschließlich aller Getränke vollständig finanziert war.

Das Landesfunkhaus am Maschsee in Hannover wurde am 20. Januar 1952 eingeweiht © NDR/Werner Hausschild

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