Der NWDR und der Kriegsverbrecherprozess
Gegen die Bevorzugung der amerikanischen Rundfunkstellen regte sich in der britischen Kontrollbehörde, der "Broadcasting Control Unit", zunehmend Widerstand. Im Frühjahr 1946 erreichte Major Walter Everitt, einer der verantwortlichen britischen Offiziere in Hamburg, dass der NWDR täglich von 16.30 bis 17 Uhr einen festen Termin für die Nutzung eines kleinen Studios erhielt, von dem aus er in Nürnberg vor Ort eine Sendung produzieren konnte.
Im Mai 1946 dann startete der NWDR mit einem eigenen regelmäßigen "Bericht aus Nürnberg". Zunächst wurden diese Berichte zweimal ausgestrahlt - morgens nach den Nachrichten um 7 Uhr und spätabends um 22 Uhr. Später kam ein weiterer Termin hinzu, mittags um 13.15 Uhr.
"Die deutsche Bevölkerung mit den Verbrechen der Angeklagten bekannt machen"
Peter von Zahn, Leiter der Abteilung Wort beim NWDR in Hamburg und verantwortlicher Redakteur, sah in der Berichterstattung über den Nürnberger Prozess eine besondere Verantwortung. Von Zahn war im Juli 1945 als einer der ersten deutschen Mitarbeiter beim NWDR angestellt worden. Er war bestrebt, mit seinen Rundfunkbeiträgen zur Demokratisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft beizutragen. Grundlegend dafür war eine unabhängige und überparteiliche Berichterstattung, wie sie der NWDR grundsätzlich für sein politisches Programm vorsah.
Diese Ansprüche vertrat Peter von Zahn auch in Bezug auf die Rundfunkberichte über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Seiner Überzeugung zufolge sollte die Berichterstattung aus Nürnberg "die deutsche Bevölkerung mit den Verbrechen der Angeklagten bekannt und die Argumente gegen ihre Weltanschauung deutlich machen". Von Zahn plädierte damit für eine distanzierte und objektive Berichterstattung. Polemische Darstellungen und der Eindruck eines Gerichtsverfahrens der "Sieger" über die "Besiegten" sollten vermieden werden.
Elef Sossidi alias Andreas Günther
Um diese Anforderungen zu erfüllen, bedurfte es eines guten und zuverlässigen Rundfunkreporters. Major Everitt wählte den politischen Journalisten Dr. Elef Sossidi für diese Aufgabe aus. Der aus einer griechischen Kaufmannsfamilie stammende, in Hamburg aufgewachsene Sossidi hatte Rechts- und Staatswissenschaften studiert und war seit 1945 freier Mitarbeiter beim NWDR. In den Augen der NWDR-Verantwortlichen war er damit der richtige Mann für die Berichterstattung aus Nürnberg.
Um jegliche Provokation durch einen für den deutschen Rundfunkhörer zu fremd und möglicherweise auch zu "jüdisch" klingenden Namen zu vermeiden, musste Sossidi jedoch unter dem Pseudonym "Andreas Günther" berichten. "Hallo, Nordwestdeutscher Rundfunk, hier spricht Andreas Günther aus dem Justizpalast in Nürnberg." So meldete sich Sossidi täglich vom Prozessgeschehen. Sein "Bericht" beinhaltete O-Töne vom Nürnberger Prozess. Als Journalist informierte er in ruhiger und bedächtiger Art über die Geschehnisse und über den Inhalt des jeweiligen Verhandlungstages. Seine sachliche, fast schon etwas monoton wirkende Zusammenfassung der Ereignisse dauerte jeweils etwa eine Viertelstunde und enthielt keine ausdrücklichen persönlichen Kommentare zum Prozessverlauf. Mit dieser neutralen Art der Berichterstattung entsprach Sossidi in besonderer Weise den von Peter von Zahn aufgestellten Anforderungen.
Peter von Zahn zieht "Zwischenbilanz"
Die Redaktion erhielt viele Zuschriften von Hörern, die sich mit der Berichterstattung auseinandersetzten. Offensichtlich spiegelte ein großer Teil von ihnen eine eher ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung zum Gerichtsverfahren in Nürnberg wider. Den hier deutlich werdenden Widerspruch zwischen den redaktionellen Ansprüchen an die Nürnberger Berichterstattung und der Resonanz der Hörer brachte Peter von Zahn auf den Punkt. In einem als "Zwischenbilanz" betitelten Rundfunkkommentar nannte er am 27. Juli 1946 als Ursache für die aus seiner Sicht unerwünschte Entwicklung die Rundfunkberichterstattung der ersten Wochen und Monate nach Prozessbeginn. Sie habe es "nicht verstanden, das brennende Interesse der deutschen Öffentlichkeit an dem Prozess zu erregen".
Der NWDR, der erst etwa ein halbes Jahr nach Eröffnung des Prozesses aus Nürnberg berichten konnte, versuchte nun, diesen Fehler in seiner Berichterstattung zu vermeiden. Viele Hörer des NWDR sahen im Nürnberger Prozess aber weiterhin nur ein einseitiges Verfahren der Sieger gegen die Besiegten.
In Bezug auf den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess hatte es der Rundfunk also schwer, die an seine Berichterstattung gestellten hohen Erwartungen zu erfüllen. Noch wurden Schuld und Verantwortung größtenteils verdrängt. Erst nach und nach sollte es dem Rundfunk gelingen, zur Entstehung einer kritischen Medienöffentlichkeit in den 50er- und 60er-Jahren beizutragen.
- Teil 1: Der NWDR und der Kriegsverbrecherprozess
- Teil 2: Mai 1946: Startschuss für den "Bericht aus Nürnberg"