Bewegende Zeiten - Der "Atlas des Aufbruchs"
Und so rollte 2014 ein Bauwagen auf Dorf- und Marktplätze in ganz Mecklenburg-Vorpommern. Mit spartanischer Ausrüstung, origineller Lichttechnik und einem Scanner ließen sich in dem kleinen TV-Studio Gespräche mit zwei Zeitzeugen gleichzeitig aufzeichnen und historische Fotos und Akten sichern. Viele Menschen brachten Bilder und Plakate vorbei. Der einachsige Anhänger diente während der mehrwöchigen Reportage-Reise quer durch den Nordosten zugleich als Filmkulisse.
Es ging von Wolgast, Wangelin, Neustrelitz und Neubrandenburg über Demmin, Greifswald, Rostock, Schwerin, Güstrow und Dömitz. Der Bauwagen machte Halt auf dem Elbedeich, in der blühenden Heidelandschaft eines ehemaligen sowjetischen Schießplatzes. Die Außenhaut beklebten wir mit einem Schwarz-Weiß-Foto vom 23. Oktober 1989 aus Schwerin – mit Massen von demonstrierenden Menschen, die durch eine enge, verfallene Altstadtstraße drängen. Das Bild sorgte für Gesprächsstoff. „Da habe ich gewohnt!“ Mit dem Finger zeigt ein Schweriner auf eines der grauen Häuser. Um sein davor abgestelltes Motorrad habe er damals gefürchtet. „Nix passiert“, trotz der 45.000 Menschen, die an diesem Tag auf der Straße waren.
Ein befreiendes Gefühl
Die Präzision der Erinnerung und die Emotionen der Zeitzeugen sind bemerkenswert. Ein 35-Jähriger aus Neubrandenburg erzählt, wie er als zehnjähriges Kind seinen besten Freund durch dessen Flucht mit der Familie über die ungarisch-österreichische Grenze verloren hat. Das habe sich angefühlt, als ob er gestorben sei, erzählt der Mann und schluckt. In Wolgast wird eine Frau von ihren Gefühlen überwältigt, als sie erzählt, wie ihr als junger Pastorin gedroht wurde, weil sie die Kirche für das „Neue Forum“ öffnete.
Das befreiende Gefühl jener Zeit, endlich alles sagen zu dürfen: Plötzlich ist es wieder da. „Wenn man in der Lebensmitte angekommen ist und alles aufbricht, das kann man gar nicht beschreiben“, so ringt ein Schweriner um Worte. Ein 65-Jähriger aus Rostock beschreibt, wie er sich bei der ersten „Dialog-Veranstaltung“ von SED und Bürgerrechtlern im Oktober 1989 ungefragt auf einen freien Platz auf dem Podium gesetzt und stumm ein Plakat in die Höhe gehalten hat: „NEUES FORUM“. Die Wirkung sei verblüffend gewesen. Regelrecht zusammengefallen seien die Funktionäre in diesem Moment, dabei hatten sie zuvor die alleinige Macht.
Träume des Aufbruchs
Ein Bild des Rostocker Fotografen Siegfried Wittenburg zeigt eine Momentaufnahme aus dem Herbst 1989: ein Friedensgebet in der Rostocker Marienkirche, Pastor Joachim Gauck am Mikrofon, am Boden sitzen dutzende Jugendliche.
Was ist aus all diesen Menschen geworden? Dieser Frage geht der Film „Träume des Aufbruchs“ in der Reihe „Unsere Geschichte“ nach. Da ist der Werftarbeiter, der später arbeitslos geworden ist. Da sind Menschen, die heute als Sozialarbeiter, Beamter, Polizistin, Lehrerin und Psychologe arbeiten und da ist der Pastor von damals, der heute Bundespräsident ist. Bis in die USA führen die Dreharbeiten, zu Sören, damals Schüler in Rostock, heute Finanz- und Eventmakler in Ohio. 25 Jahre haben sich alle nicht mehr gesehen. Für die Dreharbeiten kehren sie zurück in die Rostocker Marienkirche. Aus dem Treffen wird ein hochemotionaler Nachmittag.
Nach zwei 45-minütigen NDR Filmproduktionen, vielen Sendungen, Magazinbeiträgen und Beitragsreihen im Nordmagazin, auf NDR 1 Radio MV und NDR Info gibt es am 9. November 2014 im Ersten eine Matinee live aus dem Foyer des Schweriner Funkhauses: „Wir sind das Volk! Anne Will im Gespräch mit Bundespräsident Gauck und Gästen“. Im Produktionsset hängen unsere Fotos aus Neustrelitz, Rostock und Roggendorf, auf dem Podium diskutieren unsere Protagonisten, die wir während der Drehreisen mit dem Bauwagen kennengelernt haben. Bewegt, gerührt sind sie – einschließlich des Bundespräsidenten. Unser „Atlas des Aufbruchs“ hat viele Gesichter bekommen.
- Teil 1: Der Geruch der Vergangenheit
- Teil 2: Ein Bauwagen als Fernsehstudio