Die "Sesamstraße": Ein Pionier des Kinderfernsehens
Happy Birthday, "Sesamstraße" - eine Erfolgsgeschichte des deutschen Fernsehens feiert 2013 runden Geburtstag. Mit berechtigtem Stolz: 1973 spielten Puppen, Kinder und Erwachsene das erste Mal in der "Sesamstraße", bewältigten kleine Alltagssituationen, lernten mit- und voneinander und hatten eine ganze Menge Spaß.
Vor allem die fantasievollen Puppen hielten seither Einzug in die deutschen Kinderzimmer: Ernie und Bert, Samson und Tiffy, das Krümelmonster und viele andere wurden liebgewonnen und zu treuen Begleitern der eigenen Fernsehkindheit – und das mittlerweile über zwei Generationen hinweg, wenn die Vorschulkinder der ersten Jahre - inzwischen erwachsen - mit ihren eigenen Kindern die "Sesamstraße" verfolgen. Doch wie kam der Klassiker des Vorschulkinderprogramms ins Programm?
Neue soziale Lernziele
Der Start der "Sesamstraße" Anfang der 70er-Jahre fällt in eine Phase gesellschaftlicher Umbrüche. Es war eine "hoch spannende Zeit", urteilt Angelika Paetow, die damals als Praktikantin zum NDR und gleich in die "Arbeitsgruppe Sesamstraße" kam. Paetow, die knapp drei Jahrzehnte später, von 2002 bis 2010, die Redaktion der "Sesamstraße" leiten sollte, war von Anfang an fasziniert von den neuen pädagogischen Ideen, die man in der "Sesamstraße" umsetzen konnte.
Vor allem soziale Lernziele standen an oberster Stelle, berichtete auch der Evangelische Pressedienst (epd); und die Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink konstatierte: "Soziales Lernen stand im Mittelpunkt". Vieles erprobten die deutschen "Sesamstraße"-Macher damals zum ersten Mal, lange bevor pädagogische Überzeugungen in allgemein akzeptierte Lernkonzepte Eingang fanden.
Selbstbewusstsein und Kreativität fördern
Die bundesdeutschen Folgen der "Sesamstraße" basierten auf dem US-amerikanischen Format, das 1968 vom Children’s Television Workshop (CTW) in den Vereinigten Staaten entwickelt worden war. Gleichzeitig eröffneten die mit dem CTW geschlossenen Verträge die Möglichkeit, eigene Beiträge für die einzelnen Folgen zu produzieren – Animations- und Einspielfilme, später auch Begegnungen zwischen deutschen Stars und den Puppen im Studio, vor Ort-Aufnahmen mit dem Ü-Wagen. Hier, so Paetow, konnten die Deutschen ihre eigenen pädagogischen Akzente setzen: ohne erhobenen Zeigefinger lernen und speziell soziales Verhalten, Selbstbewusstsein und Kreativität üben.
Gleiche Chancen für alle
Die neuen erzieherischen Ziele waren Ausdruck der gesellschaftlichen Umbrüche. Man diskutierte in der Bundesrepublik intensiv über Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Kinder, die aufgrund von Elternhaus und sozialem Umfeld benachteiligt waren, sollten entsprechend gefördert werden. "Unser Glaube war, dass das Fernsehen dazu einen Beitrag leisten kann", resümiert Karl-Heinz Grossmann, der zu dieser Zeit die Hauptabteilung Kursus- und Bildungsprogramme beim NDR leitete. Grossmann war es denn auch entscheidend zu verdanken, dass das amerikanische Vorbild in die Bundesrepublik und speziell zum NDR geholt werden konnte.
Die von dem amerikanischen Puppenspieler Jim Henson liebevoll entworfenen Puppen waren nach ihrem Programmstart 1969 in den USA sehr schnell auch in Europa bekannt geworden. Ihre Dialoge und Szenen, die in einer Durchschnittsstraße, der "Sesame Street" spielten, orientierten sich am kindlichen Alltag. Bereits im Herbst 1970 sorgten Ernie & Co. beim "Prix Jeunesse" in München für Furore.
Ein eigenes Programm für Kinder
Die westdeutschen Sendeanstalten wurden aufmerksam. Vor allem das ZDF, das sich damals im Kinderprogramm bereits mit US-Importen wie "Flipper" profiliert hatte, signalisierte großes Interesse. Aber auch bei der ARD war man bereits seit einiger Zeit auf der Suche nach neuen Kinderprogrammen. 1968 war auf einer Tagung in Tutzing die Forderung nach einem eigenen ARD-Kleinkinderprogramm erhoben worden. Neun Redaktionen in neun Landesrundfunkanstalten sollten dieses als Teil des "ARD-Nachmittags- und Familienprogramms" entwickeln.
Die Bemühungen mündeten in der "Arbeitsgemeinschaft Vorschulerziehung der ARD", die im März 1971 gegründet wurde. Experten auf den Gebieten der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik sowie Lehrer und Erzieher sollten den Programmverantwortlichen helfen. Erklärtes Ziel war es, wie F. Jasmin Böttger in einer Forschungsarbeit zum "Dritten Fernsehprogramm der Nordkette NDR/SFB/RB 1960-1982" aufzeigte, sich von der bis dahin herrschenden Bewahrpädagogik abzuwenden. Kleinkinder sollten ernst genommen werden, es galt zu erkennen, dass auch sie Probleme zu bewältigen und Konflikte auszutragen haben. Die Zeiten von Märchenstunden, Vorleserinnen und Spiel-Gouvernanten waren vorüber.
Die "Pappnasen aus USA"
Als Vertreter des NDR gehörten dieser "Arbeitsgemeinschaft Vorschulerziehung" neben Karl-Heinz Grossmann mehrere Kinderfunk-Redakteure an, darunter Jürgen Weitzel, der später Leiter der "Arbeitsgruppe Sesamstraße" wurde. Die Diskussion um die "Pappnasen aus USA", über die das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im April 1970 das erste Mal berichtet hatte, führte zu einem regelrechten Wettlauf zwischen dem ZDF und der ARD. Grossmann unterrichtete NDR Intendant Gerhard Schröder und bekam von ihm und der Konferenz der dritten Fernsehprogramme der ARD den Auftrag, in New York mit den CTW-Vertretern zu verhandeln.
Zusammen mit der Redakteurin Ursula Klamroth brachte man als einen ersten Erfolg ein Filmpaket aus New York mit. 35 Folgen von je einer Stunde Länge konnten in Deutschland geprüft werden. Das geschah nicht nur intern mit den Fachleuten, sondern auch öffentlich.
- Teil 1: Neue soziale Lernziele
- Teil 2: Der Probelauf beginnt