Start für die Sesamstraße
"Können Sie Montag anfangen? Sie müssen zu Studio Hamburg ins Synchronstudio. Aufpassen, dass die Synchrontexte richtig aufgenommen werden!" Natürlich konnte ich! Mit diesem heiß ersehnten Anruf von Jürgen Weitzel, dem Leiter der Arbeitsgruppe Sesamstraße, begann mein sechsmonatiges Praktikum beim NDR. Ich war 21 Jahre alt, wollte zur Film- und Fernsehhochschule und brauchte dafür praktische Erfahrung beim Fernsehen. Volontariate gab es damals beim NDR noch nicht. Aber zur Sesamstraße gehen zu können, war ein Sechser im Lotto. Und dass aus den sechs Monaten Praktikum ein lebenslanger beruflicher Weg als Redakteurin beim NDR werden würde, ahnte ich nicht.
Auftritt: Ernie und Bert
Der Sommer 1975 war heiß. Ich saß vier Wochen lang im kühlen Synchronstudio in Hamburg- Wandsbek und erlebte staunend, wie Gerd Duwner und Wolfgang Kieling als Ernie und Bert sich in atemberaubender Geschwindigkeit und Präzision vor dem Mikrofon wanden und kicherten, das ABC sangen oder die Tür als Schlagzeug bespielten. Die Faszination des professionellen, lehrreichen Irrsinns packte mich sofort. Das geniale Puppenspiel von Ernie und Bert bekam durch die Stimmen der beiden Schauspieler eine zusätzliche Qualität, um die uns die amerikanischen Kollegen beneideten, wie sie viel später gestanden.
"Wer? Wie? Was?"
Seit zwei Jahren war die "Sesamstraße" auf Sendung. Sie war gleichzeitig Kult und Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Fragen: Sollen kleine Kinder fernsehen? Darf man Bildung so chaotisch, so schnell, so sketchartig vermitteln? Wo bleiben die Erzieher? Was ist, wenn mein Kind, wie Oskar in der Mülltonne wohnen will? Die Diskussion um die Rechte von Kindern, ihre Selbstständigkeit, ihre berechtigten Forderungen an Erwachsene war mit der "Sesamstrasse" voll entbrannt. Es sollte übrigens noch bis 1989 dauern, bis die Internationale Kinderrechtskonvention in der UN verabschiedet wurde. 1975 waren Kinder durchaus noch nicht überall dran.
In der "Sesamstraße" dafür umso mehr. Nach den vier Wochen Synchronstudio zog ich an einen kleinen Schreibtisch in einer wunderbaren Villa in der Hamburger Hagedornstraße. Dort residierte die Arbeitsgruppe "Sesamstraße" in trauter Nachbarschaft mit dem südkoreanischen Konsulat. Es gab die Gruppe Synchron und die Gruppe Neudreh, 70 Prozent einer Folge wurde eingedeutscht, 30 Prozent neu gedreht.
"Tausend tolle Sachen"
Bis heute bin ich dankbar dafür, wie umfassend ich mit der Produktion der Sesamstraße die verschiedenen Bereiche des "Fernsehen machens" lernen konnte. Es wurde in allen Genres produziert, alle Themen waren möglich, es sollte nur nicht länger als maximal fünf Minuten sein. Und ich konnte überall mit dabei sein: Der zweitgrößte Tanker der Welt wurde bei Blohm & Voss ausgedockt? Morgens um drei Uhr dokumentierten wir das Ereignis - Lernziel Groß/Klein: großer Tanker, kleiner Schlepper. Verkehrsspots für kleine Kinder mit Puppen als Legetrick? Ich stand im NDR eigenen Trickstudio und schob in Einzelbildschaltung die Kopfpuppen über den Tricktisch. Und durfte auch gleich am Storyboard, der Visualisierung des Konzepts, mitarbeiten. Helga Feddersens Realserie über die "Taxigeschichten" hatte Drehbeginn? Ich durfte meine erste Regieassistenz machen. Historische Szenen im Studio? Ich bekam einen Juterock an und saß als Komparsin im Sand der Bronzezeit.
Von "Mazen" und "Fazen"
Für kaum ein anderes Programm wurden damals so viel unterschiedliche Filme produziert. Dann wurden damit die neuen Folgen konzipiert und zusammengeschnitten. Allerdings war der Produktionsprozess ziemlich kompliziert. Das amerikanische Material kam in kompletten Folgen in Deutschland als Zwei-Zoll-MAZ (Magnetaufzeichnung) an und wurde in die deutsche Fernsehnorm transcodiert. Von den "MAZen" wurden "FAZen" (Filmaufzeichnungen) gezogen. Die wurden neu geschnitten, mit den deutschen Fassungen der amerikanischen Szenen und den in Deutschland neu gedrehten Filmen zusammengestellt und gemischt und dann wieder auf die "MAZ" aufgespielt. Erst Ende der 70er-Jahre vereinfachte sich der Prozess und durchlief dann später alle Stufen der technischen Entwicklung über Ein-Zoll-MAZ, Beta SP bis zur heutigen HD bzw. bandlosen Herstellung.
Die Monster bleiben
Mein Praktikum mündete in eine Anstellung als Redaktionsassistentin und später als Redakteurin. Die befristet eingesetzte Arbeitsgruppe Sesamstraße wurde zur Redaktion Kleinkinderprogramm des Norddeutschen Rundfunks. Und im Herbst 1975 hatten wir den 9. Stock des neuen Hochhauses in Lokstedt bezogen. Die Monster waren nun etabliert. Aber sie blieben im Zentrum der Auseinandersetzung.
Die Diskussionen waren immer heftig, aber sie wurden nicht gescheut. Kindergärtnerinnen beschwerten sich über die Beliebtheit und damit Dominanz der Sesamstraße bei den kleinen Kindern. Also lud Jürgen Weitzel sie zur Diskussion in die Redaktion. Die Presse bezweifelte den Bildungsgehalt der Sesamstraße. Also wurde zur Podiumsdiskussion mit Journalisten eingeladen. Und natürlich wurde mit dem Publikum diskutiert. Per Brief und Festnetztelefon, denn E-Mail, Fax und Handy gab es nicht. Als in der Sesamstraße eine Geburt gezeigt wurde, stand das Telefon nicht mehr still. Von bewundernder Anerkennung bis wütendem Protest ging die Bandbreite der Kommentare.
Lernen können auch die Großen
Ein bis zwei Mal im Jahr stellte sich die Redaktion mit ihrer Arbeit der Diskussion im Wissenschaftlichen Beirat der Sesamstraße. Dort waren Pädagogen, Psychologen, Neurologen und Wahrnehmungsforscher aus Deutschland und Österreich vertreten. Außerdem gehörten die Koproduzenten von WDR, HR, SR und SWF dem Gremium an.
Ich habe diese Treffen immer sehr geschätzt. Natürlich war es schwierig, die Sichtweisen von Wissenschaftlern und Fernsehredakteuren auf einen Nenner zu bringen und der Beirat war durchaus streitlustig. Aber im Laufe der Jahre konnten beide Seiten voneinander viel lernen. Besonders die Erkenntnisse der Wahrnehmungsforscher haben mich sehr interessiert. Was passiert eigentlich beim Fernsehen? Was spielt sich im Gehirn ab, hinterlässt die Dramaturgie einer Geschichte Spuren im Gehirn? Diese Art der Recherche schulte bei den Redakteuren der Sesamstraße auch das Verständnis hinsichtlich der Verantwortung des Fernsehjournalisten für die Rezeptionssituation des Zuschauers. Damals natürlich besonders die des kleinen Zuschauers.
Ein fester Termin für alle
Eine wichtige Erkenntnis war: Kinder können kognitiv nicht überfordert werden, sie wenden ihre Wahrnehmung dann schlicht woanders hin. Emotional können sie aber durchaus überfordert werden und sind dann womöglich nicht mehr in der Lage, das Gesehene zu verarbeiten. Diese Regel versuchten wir bei der dramaturgischen und auch bilddramaturgischen Gestaltung zu beachten.
In vielen Dingen nahm die Sesamstraße Pionierstatus ein: Sie war die erste Koproduktion der "Sesame Street" und führte den Zug der Monster um die Welt an. Sie war aber auch eine der ersten langjährigen Koproduktionen zwischen mehreren Landesrundfunkanstalten der ARD. Und sie startete schon früh einen Medienverbund mit einem deutsche Printunternehmen. Sie wurde täglich zweimal ausgestrahlt und nahm so, ähnlich wie die Tagesschau, einen festen Platz im Tagesablauf der Familien ein.
Abspann: Ernie und Bert sind immer noch dabei
Über die Jahre veränderte sich vieles. Eine Vielzahl von Schauspielern, Komikern und Entertainern bevölkerte das Studio der Sesamstraße. Deutsche Puppen zogen ein, amerikanische Puppen kamen als Gast und manche blieben. Tempo und Sprachwitz gingen mit der Zeit. Der aufklärende Tonfall der ersten Realfilme verlor den leicht ideologischen Unterton. Dafür zogen Reportagen mit kleinen Kindern in die Sesamstraße ein. Und bei den Kinderfesten der ARD in verschiedenen Teilen Deutschlands konnten die kleinen Zuschauer ihre Puppenlieblinge auch live auf der Bühne sehen.
Immer noch und auch nach 40 Jahren gilt in der Sesamstraße der selbstbewusste Ausruf des Mädchens, das in der Schlange beim Bäcker immer nach hinten geschoben wird: "Kinder sind nämlich auch mal dran!"