Seekarten für die Rundfunk-Kapitäne
"Zwischen Mikrophon und Lautsprecher" liege ein "Schleier", so Elisabeth Noelle im April 1949 gegenüber dem Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR). Die Leiterin des Instituts für Demoskopie warb damals in Hamburg erfolgreich um Aufträge für ihr junges Allensbacher Unternehmen. Geschickt verstand sie es, die allgemeine Unsicherheit auf dem Gebiet der Hörerforschung in Deutschland zu bedienen: "Hörer - wer bist Du?" wurde damals in der Fachpresse gefragt; der Hörer galt als ein "unbekanntes Wesen".
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk reagierte darauf. Um seine Hörer besser kennenzulernen, vergab er Auftragsarbeiten, entwickelte hausintern Studien, die die Hörerpost systematisch auswerteten und startete Fragebogen-Aktionen. Den Durchbruch jedoch hin zu einer wissenschaftlich renommierten Erforschung des Publikums stellt das Datum 1. Oktober 1952 dar: An diesem Tag wurde Wolfgang Ernst zum Leiter der Abteilung Hörerforschung des NWDR berufen.
Die Anfänge der Medienforschung
Der große Sender im Norden setzte damals auf eine ambitionierte Lösung. Wolfgang Ernst war zwar noch ein junger, aber sehr erfolgversprechender Medienforscher. Er war methodisch versiert und im praktischen Rundfunkgeschäft bereits erfahren. Wolfgang und seine Ehefrau Lena-Renate Ernst hatten noch während ihres Studiums das "Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung" am Zeitungswissenschaftlichen Institut in München mitbegründet. Seit 1947 hatten sie und andere Studenten begonnen, die Ansätze der modernen amerikanischen Meinungsforschung auf die junge Demokratie in Deutschland zu übertragen und kleinere Umfragen durchzuführen. So war Wolfgang an Umfragen und Studiotests im Auftrag des Bayerischen Rundfunks beteiligt.
Beeindruckende Bilanz
Ernst arbeitete in Hamburg mit einem Zeitvertrag als "fester Freier". Damit verband er das Ziel, sein sich in München bereits schrittweise entwickelndes Unternehmen - das spätere "Infratest" - durch den Aufbau einer Dependance in Hamburg im Wettbewerb der Meinungsforschungsinstitute zu positionieren.
Es wurden drei äußerst erfolgreiche Arbeitsjahre bis zur Auflösung des NWDR Ende 1955. Die Bilanz der Abteilung Hörerforschung ist beeindruckend. Mit zeitweise mehr als 30 Mitarbeitern führte Wolfgang Ernst beim NWDR zwischen Ende 1952 und Ende 1955 zahlreiche große Untersuchungen durch, darunter eine Repräsentativbefragung "Jugendliche heute", Studien zu "Mundart-Hörern", "Kirchlichen Sendungen", Landfunk- und Frauenfunksendungen sowie zur "Einstellung des Rundfunkhörers zu Sportsendungen", "Volksmusik im Rundfunk" und zum "Dritten Programm". Hinzu kamen mehr als 250 Berichte über Einzelsendungen.
Der "Program Analyzer"
Neue Akzente setzte Ernst vor allem mit Studiotests, die er und seine Frau in München entwickelt hatten und in denen sie mit psycho-technischen Apparaturen arbeiteten. Zu den Reaktionsmessinstrumenten gehörte auch der "Program Analyzer", der in den USA vor allem von dem österreichisch-amerikanischen Soziologen Paul Felix Lazarsfeld entwickelt worden war. Testpersonen wurden dabei gebeten, ihre Reaktionen und Emotionen beim Abhören eines Beitrags spontan durch Drücken eines rechten und linken Knopfes mitzuteilen.
Solche Ansätze stießen in Hamburg auf großes Interesse. Die NWDR Hörerforschung stellte für die Forschung kleine Probandengruppen zusammen. Ihnen wurden unter Versuchsbedingungen Einzelsendungen vorgeführt und die unmittelbaren, noch nicht reflektierten Wirkungen auf die Hörerinnen und Hörer gemessen.
Über die Wirkung von Marschmusik
Gerhard Maletzke, 1950 promoviert mit einer Arbeit "zur psychologischen Wesenseigenart des Rundfunkhörens", arbeitete als Assistent am Psychologischen Institut der Universität Hamburg und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hans-Bredow-Institut. Seine theoretisch-methodischen Kenntnisse verbanden sich mit den empirischen Erfahrungen der NWDR Hörerforschung, speziell bei einer Untersuchung der Hörer-Reaktionen auf Marschmusik.
Im Herbst/Winter 1954 führten die Hörerforschung von NWDR und Hans-Bredow-Institut zwölf Studiotests durch und zeichneten mit dem "Program Analyzer" gemessene Reaktionen auf. Daneben machten sie Wortassoziationsversuche, ließen unvollständige Sätze ergänzen und führten Diskussionen. Die Kombination von quantitativen und qualitativen Ansätzen führte zur Bildung von "Hörer-Grundtypen" und bot, so Maletzke, "Einblicke in die psychischen Vorgänge, die mit dem Hören von Marschmusik verbunden sind". Für die Programmgestalter lieferte sie "brauchbare Hinweise auf die Reaktionen, die beim Senden von Marschmusik" zu erwarten sind.
Die Arbeit mit "qualifizierten" Rundfunkteilnehmern
Zu einem regelrechten Schwerpunkt der Hörerforschung unter Wolfgang Ernst entwickelte sich die Arbeit mit sogenannten Panels. Dieser Ansatz wurde speziell bei der BBC in Großbritannien seit Längerem intensiv verfolgt. Dazu setzte man in Hamburg auf "qualifizierte" Rundfunkteilnehmer, das heißt auf eine Gruppe von Hörern, die an einem bestimmten Programmangebot interessiert waren. Diesen legte man über einen längeren Zeitraum hinweg Fragen zu Sendungen aus dem jeweiligen Bereich vor. Mit Hilfe von verschiedenen Panels testete die Abteilung insgesamt über 250 Einzelsendungen des Kulturellen und des Politischen Worts, vor allem des Hörspiels. Dieser Panel-Ansatz stand im Gegensatz zur Arbeit mit repräsentativen Stichproben, die in der empirischen Sozialforschung für quantitative Befragungen benutzt wurden und werden.
- Teil 1: Die Anfänge der Medienforschung
- Teil 2: Annäherung an den Hörer