Gender Medizin - eine gerechte Medizin für alle
Der Maßstab der meisten medizinischen Studien ist ein 75 Kilo schwerer Mann. Eine geschlechtersensible Medizin und Forschung könnte für mehr Gerechtigkeit sorgen und Leben retten.
Wenn Professor Sonja Loges über ihr aktuelles Forschungsprojekt spricht, dann klingt sie fast wie eine Ermittlerin. Ihr Fall: die Immuntherapie gegen Krebs. Ihr Verdacht: Bei Männern wirkt diese Behandlung besser als bei Frauen. Ihr Ziel ist nun herausfinden, warum das so ist und wie sich dieser Effekt auch bei Frauen herbeiführen lässt. "Wir haben im Labor Modellsysteme entwickelt, die uns diesen Unterschied tatsächlich zeigen", erklärt Sonja Loges. "Wir haben Hinweise darauf, dass die Geschlechtshormone einen sehr wichtigen Einfluss auf diese Immunantwort gegen Krebs haben."
Unterschiede für die Krebstherapie nutzbar machen
Loges forscht am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und an der Uniklinik Mannheim im Bereich der personalisierten Onkologie. Mit der Immuntherapie werden Menschen mit fortgeschrittenen Tumor-Erkrankungen behandelt, die nicht mehr operiert werden können. Mit Hilfe von Medikamenten werden dabei - stark vereinfacht beschrieben - Blockaden gelöst, mit denen Tumorzellen die körpereigene Abwehr ausbremsen. Das funktioniert nicht bei allen Krebsarten, aber bei weit verbreiteten Tumoren wie dem Lungenkarzinom, an dem Loges forscht: "Man geht da einfach sehr, sehr in die Tiefe. Wir wollen diese Unterschiede sozusagen bis ins letzte Detail verstehen."
Aktuell bereitet ihr eine erste klinische Studie mit Frauen vor, die bisher nicht mehr auf die Immuntherapie ansprechen. Bei ihnen wird erprobt, wie sich derselbe Therapie-Erfolg wie bei Männern erzielen lässt. Es ist ein sehr spezialisierter Bereich der Medizin, aber die Betroffenen gewinnen wertvolle Zeit. "Ich glaube schon, dass das ein entscheidender Schritt ist - den sollten wir gehen", sagt Loges. Für die Forscherin zeigt sich daran auch, wie wichtig es ist, die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu erforschen und zu verstehen.
Corona rückt geschlechtersensible Medizin in den Fokus
Zuletzt hat Covid-19 einer breiteren Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass Frauen und Männer unterschiedlich erkranken können. Männer haben nach einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus häufiger einen schweren Verlauf. Das weibliche Immunsystem bekommt das Virus dagegen oft besser in den Griff. Ein Muster, dass Professor Marcus Altfeld am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf schon bei anderen Virus-Erkrankungen beobachtet hat: "Generell ist es so, dass Frauen eine bessere initiale Immunantwort gegen diese Erreger entwickeln", erklärt der Leiter der Forschungsgruppe Gender Medizin. "Bei HIV wissen wir, dass Frauen mit einer akuten HIV-Infektion in den ersten sechs bis zwölf Monaten die Viruslast besser kontrollieren und geringere Virusreplikation haben als Männer. Wir kennen auch Geschlechtsunterschiede in der Hepatitis C-Infektion, wo Frauen besser eine Infektion ausheilen, während es bei Männern häufiger zu einer chronischen Entwicklung kommt."
Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielen die Sexualhormone. Das weibliche Östrogen wirkt aktivierend auf das Immunsystem. Testosteron dagegen, das männliche Sexualhormon, bremst die Immunabwehr eher. Diese Effekte sind schon seit einiger Zeit bekannt. Die Forschung am neuartigen Coronavirus hat nun aber deutlich gemacht, dass auch die Geschlechts-Chromosomen, die Träger des menschlichen Bauplans, entscheidend sind. Wichtige Informationen für das Immunsystem liegen auf dem X-Chromosom, von dem Frauen zwei haben. Corona wirke auf die geschlechtersensible Medizin wie ein Katalysator, fasst Altfeld zusammen: "Es wird einfach bewusst, dass es diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Das ist eine spannende Zeit für uns, die wir in dem Bereich arbeiten, weil sich plötzlich ganz viel tut. Vorher war es manchmal schwierig, unsere Kollegen und auch die Fachzeitschriften davon zu überzeugen, dass der Ansatz wichtig war."
Einseitige Forschung benachteiligt Frauen
Lange Zeit waren Frauen zum Beispiel von Studien zur Erprobung neuer Medikamente ausgeschlossen. Die Erkenntnisse, die mit männlichen Testpersonen erzielt wurden, wurden einfach auf Frauen übertragen. Manche Medikamente sind deshalb bis heute zu hoch dosiert für Frauen. In anderen Bereichen der medizinischen Forschung ist der Mann nach wie vor das Maß der Dinge, kritisiert Ute Seeland. Sie ist Expertin für Gefäß-Erkrankungen und setzt sich bei der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin unter anderem für eine ausgewogenere Forschung ein. "Wenn man mal ganz provokativ ist, könnte man sagen, dass 50 Prozent der Menschheit eigentlich nicht verstanden sind. Und dass die Forschung, die bisher gelaufen ist für den sogenannten Einheitsmenschen, tatsächlich auf 50 Prozent der Bevölkerung nicht übertragbar ist."
Gläserne Decke bremst Frauen im Gesundheitswesen
Auch nach Meinung von Kirsten Kappert-Gonther, Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss des Bundestags, ist die medizinische Forschung nach wie vor zu stark auf den männlichen Normkörper ausgerichtet. Für sie hängt das auch damit zusammen, dass es zu wenig Frauen in den entscheidenden Positionen im Gesundheitswesen gibt: "Die gläserne Decke ist dort mindestens so dick wie in den DAX-Unternehmen", kritisiert Kirsten Kappert-Gonther und fordert ebenso wie verschiedene Lobbyverbände eine verbindliche Frauenquote für die Führung von Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen und medizinischen Fakultäten.
Immerhin: Erste Verbesserungen in der medizinischen Forschung sind erkennbar. So müssen Pharmaunternehmen seit 2004 wieder eventuelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern überprüfen, wenn sie neue Medikamente auf den Markt bringen. Allerdings müssen sie die Studien nicht 50-50 besetzen. Und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Tausende Projekte mit öffentlichen Geldern fördert, verlangt inzwischen, dass sich die Forschende damit auseinandersetzen, ob und wie Geschlechterfragen in ihren Studien berücksichtigt werden sollten.
Verhütung gerechter machen
Das fordert auch Jana Pfenning von Betterbirthcontrol. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Verhütung gerechter für alle wird. Laut Angaben der Techniker Krankenkasse verhüten in Deutschland etwa sieben Millionen Frauen mit der Antibabypille. Einer Studie zufolge nehmen etwa 1,4 Millionen von ihnen ein für sie ungeeignetes Präparät ein - und leiden unter zum Teil starken Nebenwirkungen. Laut Jana Pfenning müsse daher mehr Geld in die Forschung investiert werden, um die Nebenwirkungen von bereits bestehenden Verhütungsmitteln zu reduzieren. Außerdem brauche es mehr Geld, um auch Verhütungsmittel für Männer zu entwickeln.
Eines davon ist schon in der Mache: Das sogenannte Samenleiterventil, entwickelt von einem gelernten Tischler aus Berlin. Es soll bei einer kleinen Operation in die männlichen Samenleiter eingesetzt werden. Das Ventil ist nur so groß wie ein Gummibärchen. Nach Einsetzen lässt es sich mit Hilfe eines Schalters von außen bedienen. Ist der Schalter geöffnet, können die Spermien durch eine schmale Röhre wandern. Im geschlossenen Zustand ist das nicht möglich. Sie werden seitlich abgeleitet und abgebaut. Es gibt schon einige Interessenten und Probanden. Um das medizinische Prüf- und Zulassungsverfahren starten zu können, werden derzeit via Crowfunding die nötigen finanziellen Mittel gesammelt.
Der lange Weg in die Praxis
Ute Seeland will darüber hinaus erreichen, dass geschlechtersensible Inhalte auch in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten zu einem prüfungsrelevanten Bestandteil werden: "Es sind nur ungefähr sieben Prozent der Fakultäten, die das Wissen vom ersten bis zum letzten Semester integriert haben, und nur eine Universität, die die Prüfungen auch danach gestaltet." Und so kommt es, dass Frauen mit einem Herzinfarkt heute noch immer etwa eine halbe Stunde später in die Klinik gebracht werden als Männer. Umgekehrt werden bei Männern psychische Erkrankungen oft zu spät erkannt, weil sie offenbar nicht ins Bild passen. In drei bis fünf Jahren könnten geschlechtersensible Inhalte Bestandteil der medizinischen Prüfungen werden, sagt Seeland. Bis das Wissen um unterschiedliche Symptome oder Krankheitsverläufe in den Praxen ankommt, wird es also noch dauern. Dabei könnten Frauen UND Männer profitieren, ist sich Seeland sicher: "Es gibt sehr viele, eigentlich alle Erkrankungen - wenn man mal genau hinschaut – bei denen man die Geschlechterunterschiede ziemlich klar sieht."