Vor zehn Jahren: Meister-Coup der Hannover Scorpions
Vor zehn Jahren haben die Hannover Scorpions sensationell die deutsche Eishockey-Meisterschaft gewonnen. Angeführt von Trainerlegende Hans Zach und getragen von einem unheimlichen Mannschaftsgeist setzte sich der Außenseiter gegen alle Widerstände durch und sorgte für eine der größten Überraschungen in der Geschichte der Deutschen Eishockey Liga (DEL). Doch nur drei Jahre nach dem großen Triumph folgte der Ausstieg aus der höchsten Spielklasse. Aus unserer Serie "(Fast) vergessene Vereine".
Manchmal werden Visionen Wirklichkeit. "Entweder hatte ich es zuvor geträumt oder in Gedanken mal durchgespielt", erzählt der damalige Scorpions-Kapitän Tino Boos im Telefoninterview mit NDR.de von dem wohl denkwürdigsten Tor seiner Laufbahn. "Ich habe mir gesagt: 'Fass dir ein Herz.'" Sein Mut wird an diesem 25. April 2010 im dritten Finalspiel gegen die Augsburger Panther belohnt. 71 Sekunden vor dem Ende trifft Boos aus dem Bully heraus über die gesamte Eisfläche hinweg in den leeren gegnerischen Kasten zum 4:2-Endstand. "Dass der Puck dann mitten ins Tor fliegt, war natürlich die Krönung.“ Der einstige Dorfverein aus der ländlichen Wedemark kürt sich erstmals zum deutschen Eishockey-Meister - eine Sensation. "Die ganze Saison könnte man eigentlich verfilmen", so der heute 45-jährige Boos.
Gehaltsverzicht sichert Lizenz
Im Juni 2009 ist der Meistertitel noch Lichtjahre weit entfernt. Die Scorpions sind finanziell angeschlagen, der Kollaps droht. Die Profis verzichten auf Gehalt, sichern damit die Lizenz und die Spielzeit. "Ich musste als Geschäftsführer mit den Jungs reden, da war natürlich große Begeisterung. Aber dass sie zusammengehalten haben und am Ende Meister geworden sind, zeigt den ungewöhnlichen Charakter dieser Mannschaft", erinnert sich Meister-Manager Marco Stichnoth im Interview mit dem NDR Sportclub.
Trainer Zach: "Alpenvulkan" als Bergführer
Sein kongenialer Partner als Chefcoach ist die deutsche Trainer-Legende Hans Zach (Biographie: "Ich, der Alpenvulkan"). Jahrgang 1949, ein Typ der Marke impulsiv und geradlinig. Bewundert und gefürchtet. "Der Lotse, der das Schiff geführt hat", so Stichnoth. Doch nach dem Saisonstart befinden sich die Scorpions in stürmischen Gewässern, sind im November 2009 Tabellenletzter.
"Das ist wie bei einer Bergtour. Da musst du auch von ganz unten anfangen, sonst zählt es ja nicht", sagt der Bayer Zach, der seine Spieler zu Höchstleistungen antreibt. Die Truppe wächst zusammen. "Das hat die Mannschaft ausgemacht. Dass wir nicht immer einer Meinung waren, aber immer wieder an einem Strang gezogen haben. Jeder, der in Hannover gespielt hat, hat sich wohlgefühlt", sagt Kapitän Boos, einer von vielen "Typen" im Team. "Wir hatten eine gute Gruppe - mit Tino Boos, Thomas Dolak, Patrick Köppchen, Niki Mondt. Das waren Kumpels und sind zum Glück auch heute noch Kumpels", erklärt Stichnoth.
Lauf in den Play-offs: "Wir waren unverwundbar"
Die Scorpions klettern bis zum Hauptrunden-Ende auf Platz vier und ziehen nach Play-off-Siegen gegen Nürnberg und Ingolstadt ins Finale ein. Dort gibt es drei knappe Partien, jeweils mit dem glücklicheren Ende für die Scorpions. "Wenn du in einen Lauf kommst, dann bist du auf einmal unverwundbar und unschlagbar. Alle Dinge haben funktioniert", schildert Stichnoth den wundersamen Durchmarsch. "Es hat alles super zusammengepasst", betont Zach, für den der Finalsieg sein letztes Match als Scorpions-Coach ist. Stichnoth nennt es "eine Punktlandung für den Hans".
Travis Scott: Vom Stolpervogel zum Meistertorwart
Es ist eine Saison mit unzähligen Geschichten. Da ist zum Beispiel der 34 Jahre alte Goalie Travis Scott. Der zuvor vereinslose Kanadier wird anfangs als Fehlverpflichtung belächelt (Boos: "Wie der über seine eigenen Füße gestolpert ist, das war Wahnsinn"), am Ende ist er der gefeierte Magier im Scorpions-Tor. Und da ist die Sache mit dem Geld, das Verteidiger Aris Brimanis im Eisfach seines Kühlschranks in einer Fischstäbchen-Schachtel sammelt. Das Geld kommt von Trainer Zach, der sein Versprechen hält und in den Play-offs zur Belohnung kräftig in die Mannschaftskasse einzahlt. Mit jeder Runde wird die Box voller und voller. Zach, der am Morgen nach dem Meistercoup schon wieder um acht Uhr in der Früh die Arena aufsucht und seine Kabine aufräumt. Während sich die Mannschaft in einem Feiermarathon durch die niedersächsische Landeshauptstadt befindet.
"Kühe, Schweine, Wedemark" statt DEL
Drei Jahre später, Juni 2013. Die Stimmung ist am Boden. Die Hannover Scorpions sind kein DEL-Club mehr. Eigentümer Günter Papenburg hat die Lizenz an die Schwenninger Wild Wings verkauft. Der Bauunternehmer hat wegen schwacher Zuschauerzahlen und im Dauerzwist mit der Stadt und dem Land Niedersachsen keine Lust mehr und zieht zurück. In zehn Jahren soll er rund 20 Millionen Euro in den Club investiert haben. Die Scorpions schrumpfen auf Normalmaß, machen als neuer Club in der Oberliga weiter. Zurück zu den Wurzeln, zurück zu "Kühe, Schweine, Wedemark" (so ein alter Schlachtruf).
Dort spielen die Scorpions noch immer - gegen den Lokalrivalen Hannover Indians oder die Crocodiles Hamburg. Ex-Kapitän Boos, Karriereende 2013, hat den Umbruch aus der Ferne beobachtet: "So ist das nunmal. Aber die Scorpions haben überlebt, das ist das Wichtigste." Und dieser unglaubliche Titelgewinn im Frühling 2010 bleibt sowieso unvergessen.