Anlaufstelle bei Gewalt im Sport: "Können nur Symptome behandeln"
Seit einem halben Jahr unterstützt eine unabhängige Anlaufstelle von "Athleten Deutschland" Betroffene von interpersonaler Gewalt im Sport. Die ersten Monate unterstreichen: Die Einrichtung ist dringend nötig, aber lange noch nicht genug.
Im Herbst erntete "Anlauf gegen Gewalt" seinen ersten öffentlichen Achtungserfolg: Als zwei Handball-Nationalspielerinnen wegen Vorwürfen gegen ihren Vereinstrainer bei Borussia Dortmund die Hilfe der unabhängigen Beratungssstelle in Anspruch nahmen. Der Fall machte in den Tagen und Wochen danach bundesweit Schlagzeilen. Vor allem von psychischer Gewalt durch den Trainer war die Rede. Am Ende wurde der Trainer freigestellt.
Anlaufstelle für Betroffene von interpersonaler Gewalt
"Sicherlich ist so ein Fall wie im Handball, wo sich eine Vielzahl von betroffenen Personen melden, ein besonderer. Er hat aber sehr deutlich gemacht, dass 'Anlauf gegen Gewalt' wirken kann", sagt Maximilian Klein von "Athleten Deutschland". Der Fall der Handballerinnen sei in den vergangenen Monaten nicht der einzige gewesen, wo das Aktivwerden der Anlaufstelle auch zu Konsequenzen geführt hätte.
"Anlauf gegen Gewalt" ist eine unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von interpersonaler Gewalt und Missbrauch im Spitzensport. Die von der Interessenvertretung "Athleten Deutschland" initiierte Beratung hatte im Mai 2022 erstmals ihre Arbeit aufgenommen. Nun hat "Athleten Deutschland" ein halbes Jahr später eine erste Bilanz gezogen - und die Ergebnisse im Sportausschuss des Bundestags vorgestellt. Für Klein ist klar: Die Anlaufstelle hilft - vor allem, weil sie als unabhängig wahrgenommen wird.
93 Hilfegesuche in einem halben Jahr
Zwischen Mai und Oktober 2022 verzeichnete die Anlaufstelle demnach 93 Hilfegesuche. Von Gewalt direkt betroffene Personen stellten die größte Gruppe dar (60 Prozent). Ein weiteres Drittel hatte Gewalt beobachtet, vermutet oder von Gewalterfahrungen Dritter gewusst. Die meisten der Hilfesuchenden waren aktive oder ehemalige KaderathletInnen (63 Prozent). Über 85 Prozent waren Frauen. Zu konkreten Sportarten macht die Auswertung keine Angaben.
Die Hilfegesuche betrafen dabei überwiegend vergangene Gewalterfahrungen. Wiederkehrende Gewalt war dabei deutlich häufiger als einmalige Vorfälle. Mit 84 Prozent stellte psychische Gewalt die häufigste Form dar. 40,7 Prozent schilderten sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt, 23,7 Prozent sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Häufig traten mehrere Formen der Gewalt auf.
Eine Mehrzahl der Betroffenen, die sich an die Anlaufstelle gewandt haben, hatten vorher bereits Versuche unternommen, die erlebte oder wahrgenommen Gewalt offenzulegen - in den meisten Fällen innerhalb der Strukturen des Leistungssports. Die Versuche scheiterten laut "Athleten Deutschland" fast ohne Ausnahme: "etwa weil Verantwortliche die Gewalt bagatellisierten, Betroffenen die Schuld für die Gewalt unterstellt wurde oder Täterinnen und Täter die Gewalt dementierten." Zum Teil erlebten Betroffene auch negative Folgen für ihre Sportkarriere.
Strukturen im Sport machen es Betroffenen schwer
Die Strukturen des Sports machen es Betroffenen oft besonders schwer - vor allem der Leistungsdruck und die speziellen Abhängigkeitsverhältnisse etwa zwischen Sportlern und Trainern, aber auch Interessenskonflikte innerhalb von Vereins- und Verbandsstrukturen, die oft als familiär beschrieben werden. Das zeigten in den vergangenen Jahren immer wieder Beispiele, die etwa aus dem Schwimmsport, Handball, Tennis oder Turnen öffentlich wurden.
Betroffene können sich an die Anlaufstelle sowohl telefonisch als auch per E-Mail wenden. Montags und donnerstags ist sie für jeweils drei Stunden erreichbar. Neben dem Rat von drei Expertinnen vermittelt die Anlaufstelle auch Kontakte für eine psychotherapeutische oder rechtliche Erstberatung.
"Anlauf gegen Gewalt" begegnet laut der Bilanz von "Athleten Deutschland" dabei dem kurzfristigen Handlungsbedarf, Betroffenen im Spitzensport eine unabhängige Anlaufstelle zur Verfügung zu stellen. Die strukturellen Probleme des Sports kann sie dabei jedoch nicht lösen.
"Können nicht das Systemversagen auflösen"
"Wir können mit der Anlaufstelle nur Symptome behandeln", sagt Klein. "Wir können Betroffenen Unterstützung anbieten. Wir können auf Wunsch auch auf Situationen einwirken, in den Austausch mit Verbänden gehen. Aber wir können mit der Anlaufstelle nicht das Systemversagen, die großen strukturellen Probleme auflösen." Dafür, so Klein, braucht es nach wie vor dringend eine eigene Einrichtung - ein Zentrum für "Safe Sport".
Eine vom organisierten Sport unabhängige Institution könnte nicht nur Betroffene beraten, sondern - so der Wunsch von "Athleten Deutschland" - dann auch Untersuchungen einleiten und Sanktionen verhängen, Aufklärungsarbeit leisten und Schutzmaßnahmen kontrollieren.
Das Zentrum könnte dann zum Beispiel einen Trainer sperren, wenn dieser wiederholt übergriffig wurde, aber im Verein nie jemand durchgriff, weil er sportlich erfolgreich war oder strafrechtlich - etwa wegen Verjährung oder juristisch zu geringer Beweislast - nicht verurteilt werden konnte. Vorbilder gibt es bereits in anderen Ländern, wie den USA und der Schweiz.
Trägerverein für "Safe Sport" gegründet
Die Bundesregierung hatte ein entsprechendes Vorhaben vor einem Jahr auch in den Koalitionsvertrag mit aufgenommen. Nach einer Machbarkeitsstudie Anfang des Jahres folgte im November die Gründung eines Trägervereins für "Safe Sport" - ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Zentrum. Neben Betroffenenvertretungen und Expertinnen und Experten gehört auch "Athleten Deutschland" zu den Gründungsmitgliedern.