Michael Westphal: Ein Schattendasein
Nur ein einziges Mal danach tritt Westphal aus diesem Schatten heraus, ein einziges Mal kann er zeigen, welche Fähigkeiten er hat - für diesen einen Tag überstrahlt er sogar Becker. Es ist der 4. Oktober 1985: In der Frankfurter Festhalle findet das Halbfinale im Davis Cup zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei statt. Natürlich steht (zunächst) der Wimbledonsieger im Vordergrund - extra für ihn wird ein schneller Teppichboden verlegt, den der Leimener mit einem mühelosen Sieg über Miloslav Mecir zur 1:0-Führung nutzt.
Held für einen Tag
Anschließend betreten Michael Westphal und Tomas Smid zum zweiten Einzel die Halle. Der 20-Jährige ist gegen den etablierten tschechischen Top-20-Spieler klarer Außenseiter. Es läuft zunächst alles nach Plan für Smid: 8:6 im ersten Satz (Tie-Breaks gibt es noch nicht im Davis Cup), 6:1 im zweiten. Auch im dritten liegt der Tscheche schon mit einem Break vorne, als sich Michael Westphal wieder herankämpft. Beim Stand von 5:5 rutscht er auf einer sich lösenden Teppichmatte aus, kann den Ball aber trotzdem verwerten und gewinnt den Satz schließlich mit 7:5. Der (Schicksals-)Ball ist auf die richtige Netzseite gefallen, Westphal holt sich auch den vierten Satz (11:9). Der fünfte und entscheidende Satz geht in die Tennis-Geschichte ein: 17:15 heißt es nach dem 5:29 Stunden dauernden Match - mit 85 Spielen bis dato das längste Einzel der Davis-Cup-Historie. Ironie des Schicksals: Nur ein Dreivierteljahr später, am 24. Juli 1987, ist diese Marke schon wieder Makulatur: Boris Becker stellt Westphal erneut in den Schatten, liefert sich im Davis-Cup-Relegationsspiel mit John McEnroe ein unglaubliches Match, das sechs Stunden und 21 Minuten dauert.
Vorwurf: Mangelnder Trainingsfleiß
Doch der Durchbruch ist Westphals Marathonspiel nicht. Er glänzt zwar weiterhin im Davis-Cup-Team, aber seine Einzel-Karriere stagniert. Im März 1986 erreicht er mit Rang 49 seine höchste Platzierung in der Tennis-Weltrangliste. Kritiker werfen dem 21-Jährigen mangelnden Trainingsfleiß vor. So auch Davis-Cup-Kapitän Wilhelm Bungert: "Er macht häufig zwei bis drei Wochen Pause und ist dann völlig von der Rolle." Westphal sei nicht bereit, sich zu quälen, heißt es. Während Deutschlands neue Tennisstars Becker, Michael Stich und Steffi Graf die sportlichen Schlagzeilen beherrschen, sinkt Westphals Stern, ehe er richtig zu leuchten begonnen hat: 1986 scheidet er bei 13 Grand-Prix-Turnieren bereits in der ersten Runde aus. 1988 ist er nur noch die Nummer 285 der Weltrangliste. Der Tennisball ruht mittlerweile auf der falschen Seite des Netzes: BW Neuss gibt Westphal keinen neuen Vertrag, Werbepartner und Ausrüster haben kein Interesse mehr an ihm - im Alter von 24 Jahren bleiben Westphal nur noch die Ersparnisse.
- Teil 1: Erfolge vor dem Becker-Boom
- Teil 2: Das Spiel seines Lebens
- Teil 3: Aids-Erkrankung und Tod