Motor Saporischschja - Ukrainische Handballer im Exil
Motor Saporischschja war der Vorzeigeclub im ukrainischen Handball - und spielt seit dieser Saison in der 2. Bundesliga. Ein Glücksfall für die Sportler, aber auch eine Belastung - denn währenddessen verteidigen Gleichaltrige die Heimat im Krieg gegen Russland.
Motor Saporischschja war in der Ukraine eine Handball-Macht - wie hierzulande etwa der THW Kiel: Rekordmeister, Champions-League-Teilnehmer, das Team gespickt mit Nationalspielern. Doch seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor einem Jahr ist dies nur mehr Vergangenheit. Aus unbeschwerten Sportlern hat das nicht enden wollende Leid in der Heimat nachdenkliche, bisweilen traurige und verunsicherte Menschen gemacht. Sie treiben ihren Sport inzwischen als Gäste in der 2. Handball-Bundesliga und sollen so auch den Fans daheim Freude bereiten. Aber immer wieder plagt sie ihr schlechtes Gewissen: Dürfen sie es gut haben im Exil in Düsseldorf, während Gleichaltrige an der Front kämpfen müssen?
Die Pflicht zu kämpfen? - Ein belastender Gedanke
"Ich habe oft diese belastenden Gedanken, dass ich die Pflicht habe, dort zu sein, um mein Land und die Zukunft meiner Familie zu verteidigen", sagt Zakhar Denysov. Er ist Kapitän der Mannschaft aus der umkämpften Großstadt am Dnepr, die während der erbitterten Kämpfe um das seit März vergangenen Jahres unter russischer Kontrolle stehende Kernkraftwerk Saporischschja täglich im Fokus stand.
Mehr als 2.000 Kilometer entfernt von brutalen Angriffen auch gegen die Zivilbevölkerung, von nicht enden wollenden Verwüstungen durch Raketen- und Drohnen-Terror wollen und sollen er und seine Kollegen so etwas wie Spielfreude auf den Hallenboden zaubern. "Der Handball hilft mir, mich etwas von dem Ganzen abzulenken", so Illia Blyzniuk. Aber die Worte des Youngsters, der am 19. Februar seinen 22. Geburtstag fern der Heimat und Familie feiern muss, klingen im Gespräch mit dem NDR eher, als ob er sich selbst gut zureden müsste.
Manager Karpushchenko: "Ein Stück normales Leben"
Das tut auch Dmytro Karpushchenko. "Wir brauchen jetzt nicht nur Neuigkeiten von der Front, sondern auch ein Stück normales Leben", sagt der umtriebige Teammanager. Fast ständig hat er sein Handy am Ohr, verfolgt stündlich die Nachrichten aus seiner belagerten Heimatstadt. Bis das Gerät mal wieder aufgeladen werden muss, was meistens zweimal am Tag vorkommt. Von Düsseldorf aus kümmert sich der 45-Jährige weiter um alles bei Motor, dem Werksverein eines ukrainischen Turbinenherstellers. Er weiß: "Wenn die Firma ein Problem hat, gibt es uns nicht mehr. Nur weil wir zur Firma gehören, können wir hier unsere Arbeit fortsetzen."
Handballer dürfen ausreisen - dank Ausnahmegenehmigungen
Seine Frau Oxana ist noch immer in Saporischschja. Das sei für beide zunächst schockierend gewesen, aber sie haben sich mit der Situation arrangiert - so gut es eben geht. "Ich schalte das Handy nur im Flugzeug aus. Natürlich ist das kein normales Leben. Aber wir leben - wir existieren - wir arbeiten", sagt Karpushchenko. "Einfach nur rumzusitzen und warten bis alles vorbei ist? Das ist nicht unser Weg!"
Anfang Mai vorigen Jahres durfte er die Ukraine verlassen. Das ist wehrfähigen Männern zwischen 18 und 65 Jahren im Krieg eigentlich nicht gestattet. Doch Karpushchenko bekam die Erlaubnis, weil er seit zwölf Jahren an Diabetes leidet. Auch für seine Spieler gelten Ausnahmen für die European League, die Bundesliga und die Nationalmannschaft: "Unser Sportministerium fragt die Regierung und die stellt uns dann jeden Monat die Genehmigung zum Aus- und Einreisen aus."
Düsseldorf sagte sofort zu
Nach einigen Monaten unter Beschuss der Russen hätten er und seine Spieler verstanden, dass es nicht so schnell vorbei sein würde, erzählt der Manager. Zwei, drei Wochen sei er mit dem Auto rund 6.500 Kilometer unterwegs gewesen, um eine Lösung zu finden. "Ich habe mit dem slowakischen, dem tschechischen, dem polnischen, dem slowenischen und auch dem deutschen Verband gesprochen." In Düsseldorf bekam er sofort eine Zusage. "Keiner hat gefragt, warum wir das Geld nicht an anderer Stelle einsetzen", sagt Stadtdirektor Burkhard Hintzsche über die unbürokratische Hilfeleistung. Keiner habe sich gesträubt, wertvolle Hallenzeit herzugeben. "Wir haben nur positive Rückmeldungen bekommen."
Spieler Kasai: "Wirrwarr und Gefühlschaos im Inneren"
Viele Leistungsträger haben Motor Saporischschja zwar verlassen, aber noch immer stellt der Club das Gros der ukrainischen Nationalmannschaft. Coach ist Gintaras Savukynas, ein Litauer, der viel mehr ist als nur Trainer: "Meine Spieler versuchen so professionell zu sein, wie sie sein sollten", sagt er. "Aber sie denken natürlich oft an zu Hause." So wie Oleksandr Kasai, der jeden Tag den Kontakt zu seinen Freunden und der Familie sucht: "In meinem Inneren findet ein Wirrwarr, ein Gefühlschaos statt. Auf diese Weise versuche ich, mich selbst zu beruhigen." Aber der 26-Jährige sagt auch: "Die Menschen in der Ukraine sehen jetzt, wie wir spielen und kämpfen. Das ist sehr wichtig."
Kapitän Denysov: Belastung für die Psyche wächst
Ein stetes Kopf-Kino, diese Zerrissenheit zwischen dem friedlichen Leben im Exil und der unsagbaren Gewalt in der Heimat. "Je länger wir hier sind, umso belastender wird es für die Psyche", sagt Team-Kapitän Denysov. "Egal, wie gut es uns hier geht, es gibt immer noch unsere Heimat, wo unsere Liebsten leben." Wenigstens können Nadya, seine Frau, und die beiden Kinder bei ihm sein. Sie leben zusammen auf 57 Quadratmetern - der Handball-Profi empfindet es als Privileg: "Ich habe zwei Therapeutinnen: meine Mannschaft und meine Familie." Sohn Matviy wird weiter von Saporischschja aus unterrichtet - via Video-Schalte ins ferne Düsseldorf. "In Deutschland geht es mir sehr gut, aber meine Klassenkameraden fehlen mir sehr", sagt der Junge.
Bohmann: Hürden genommen, Spielplan umgestrickt
Die im vergangenen Sommer entstandene Idee, das ukrainische Spitzenteam in der 2. Bundesliga spielen zu lassen, stieß nicht sofort und überall auf Gegenliebe. Doch Frank Bohmann machte sich die Aufgabe zur "Herzensangelegenheit". Der Geschäftsführer der Handball-Bundesliga räumte vielfältige Bedenken und objektive Schwierigkeiten aus dem Weg: "Wir haben die Hürden genommen und unseren Spielplan umgestrickt." Eine harte Prüfung auch für das Motor-Team, das vor dem Krieg in einer Neuner-Liga gespielt hat und es jetzt mit 19 Konkurrenten zu tun bekommt.
Zuschauer: "Fühle mich wie in der Ukraine"
"Dass wir hier zusammen den sportlichen Wettkampf machen dürfen, ist nicht selbstverständlich", sagt David Kuntscher. Das Auswärtsspiel in Düsseldorf hat er mit dem TV Hüttenberg knapp gewonnen. Aber was zählt das schon - zumal die Punkte für oder gegen Motor Saporischschja am Ende der Saison aus der Wertung genommen werden. "Teilweise fühle ich mich wie in der Ukraine", sagt derweil auf der Tribüne Alexandros Chontzaisa, der schon seit zehn Jahren in Deutschland lebt. Zuschauerin Klara Romanova ist vor acht Monaten vor dem Krieg geflohen und freut sich über die Ablenkung: "Es ist gut, nicht daran zu denken, was in der Ukraine gerade passiert."
Respekt von allen Seiten
Fünfmal die Woche trainiert die Mannschaft; viel Ablenkung, aber auch eine hohe sportliche Belastung. Das sei wie Medizin, wie eine Behandlung für die Psyche, meint Teamarzt Ivan Shursha: "Wenn die Jungs auf dem Platz sind, denken sie nur an Handball." Jonas Truchanovičius, ein Litauer in Diensten von Motor Saporischschja, weiß genau, was der Doktor meint: "Wenn du wirklich tief in die Probleme eintauchst, dann kannst du verrückt werden", sagt er. "Deswegen bleiben wir lieber an der Oberfläche."
Die Akzeptanz der Konkurrenz wirkt zudem ein wenig wie Balsam auf die geschundenen Seelen. "Sie zollen uns Respekt, dass wir weitermachen, dass wir am Leben sind", so Trainer Savukynas. Kapitän Denysov pflichtet bei: "Wir spüren nur Unterstützung und nette Worte."
Karpushchenko: "Dies ist euer Schlachtfeld"
Das latent schlechte Gewissen aber bleibt. Ist es richtig, was sie in Deutschland machen? Hätten sie es nicht anderen Sportlern aus der Ukraine gleichtun und ihren Trainingsanzug gegen die Uniform tauschen müssen? "Gerade die Jüngeren beschäftigt das sehr, dass sie nicht an der Front sind", weiß Karpushchenko. "Ihre Freunde kämpfen und sie spielen hier Handball." Aber irgendjemand müsse der Welt schließlich zeigen, dass es den ukrainischen Handball noch gibt, so der Teammanager. Deshalb sage er seinen Spielern: "Dies ist euer Schlachtfeld. Hier müsst ihr kämpfen."