VAR, Kölner Keller und viel Kritik - Wie wird der Fußball gerechter?
Über den Video-Schiedsrichter wird im Fußball hitzig diskutiert. Kritiker bemängeln ein zu häufiges Eingreifen und unklare Vorgaben. Doch seinen Zweck erfüllt der VAR: Die Zahl der falschen Entscheidungen ist seit der Einführung 2017 gesunken.
VAR: drei Buchstaben - ein Reizthema! Der Video-Assistent, im deutschen Fußball-Duktus auch als "Kölner Keller" bekannt beziehungsweise geschmäht, führt zu immer lebhafteren und emotionaleren Debatten.
Vor mehr als fünf Jahren in der Bundesliga eingeführt, um Diskussionen über Schiedsrichter-Entscheidungen weitgehend zu beenden, ist der VAR selbst zum Diskussionsthema geworden. Waren die Erwartungen zu hoch? Kann es im Fußball überhaupt Gerechtigkeit geben?
"Gerechtigkeit war ein deutlich zu großer Begriff. Der VAR schafft mehr Genauigkeit, mehr Fairness. Aber Fußball ist nicht gerecht, und daran ändert auch der VAR nichts", sagt Alex Feuerherdt dem NDR. Er betreibt den populären Twitter-Account "Collinas Erben", auf dem er und seine Kollegen Schiedsrichter-Entscheidungen kommentieren.
Grundsätzlich hohe Akzeptanz des VAR
Unstrittig ist, dass der Videobeweis die Zahl der offensichtlichen Fehlentscheidungen minimiert hat. Deshalb hat der VAR grundsätzlich eine hohe Akzeptanz.
Auch Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich ist froh über "das Fangnetz" Video-Assistent, sieht aber in puncto Transparenz Verbesserungspotenzial. "Es ist das A und O, dass wir die Fans im Stadion und an den Bildschirmen mitnehmen und erklären, was wir tun", sagt der Hamburger. "Transparenz ist eines der höchsten Güter. Wir müssen daran arbeiten, das besser zu machen."
Laut Daniel Memmert von der Sporthochschule in Köln betonten bei Umfragen unter Schiedsrichtern, Trainern und Spielern lediglich 20 Prozent eher die negativen Aspekte des Videobeweises, der vor allem bei Elfmeterentscheidungen zum Einsatz kommt.
"Es ist das A und O, dass wir die Fans im Stadion und an den Bildschirmen mitnehmen und erklären, was wir tun." Schiedsrichter Patrick Ittrich
Memmert und sein Team haben knapp 3.500 Partien in verschiedenen europäischen Ligen analysiert und herausgefunden, dass 45 Prozent der VAR-Eingriffe bei der Frage "Elfmeter oder nicht" angewandt wurden.
Versprechen wurden nicht gehalten
Trotzdem übt selbst eine Reihe von VAR-Befürwortern inzwischen Kritik an der Handhabung der immer noch relativ neuen Technologie. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Versprechen zur Einführung 2017 nicht eingehalten wurden.
Wenige Sekunden würde eine Entscheidung durch den VAR dauern, hatte damals Projektleiter Hellmut Krug nach einer Testphase angekündigt. "In Ausnahmen" könnte es bis zu 40 Sekunden dauern. Und dann sagte Krug einen Satz, der sich als fatale Fehleinschätzung erwiesen hat: "Vier Minuten wird's nicht geben, das verspreche ich."
Denn Fälle, in denen sich der Schiedsrichter mehrere Minuten eine strittige Szene anschaut, sind an der Tagesordnung. Durchschnittlich dauert eine VAR-Entscheidung in der Bundesliga in dieser Saison 71 Sekunden, in der englischen Premier League im Schnitt sogar 95. Spitzenreiter in den europäischen Topligen ist die französische Ligue 1 mit fast zwei Minuten.
"Das Versprechen war einfach sehr groß. Da stand der Praxistest noch aus, und dann kam der Praxisschock", so Feuerherdt.
Saison | Anzahl gesamt | Anzahl/Partie | Dauer in Sekunden |
---|---|---|---|
2017/18 | 88 | 0,29 | 57 |
2018/19 | 111 | 0,36 | 61 |
2019/20 | 114 | 0,37 | 79 |
2020/21 | 152 | 0,5 | 81 |
2021/22 | 116 | 0,38 | 74 |
2022/23 | 84 | 0,37 | 71 |
Quelle: GSN
Die Hoffnung, Streitfälle tatsächlich schnell und geräuschlos zu klären, hat sich also nicht erfüllt. Die Dynamik des Spiels hat sich durch den VAR verändert - und das nicht zum Besseren, gerade für Zuschauer im Stadion.
Für diese ist ohnehin manchmal nur schwer nachzuvollziehen, warum der VAR gerade eingreift. Dies führt zur grotesken Situation, dass Stadionbesucher auf ihren Smartphones nachschauen, was der Schiedsrichter eigentlich gerade entschieden hat.
Für die Akzeptanz des Video-Schiedsrichters am verheerendsten ist allerdings: Viele Spieler, Trainer und Zuschauer haben das Gefühl, dass der VAR den Fußball zwar grundsätzlich gerechter macht, aber auch unnötig verkompliziert. Und dass sich eine Art "Schatten-Regime" gebildet hat, das die Autorität des Schiedsrichters auf dem Platz untergräbt, da viel zu oft eingegriffen wird.
"Der Schiedsrichter wird enteiert. Ich bin ein totaler Gegner vom VAR. Er macht den Fußball kaputt." Stuttgarts Trainer Bruno Labbadia
"Wir sitzen einer Scheinobjektivität auf, einem falschen Glauben an Technik und Perfektion", sagte der ehemalige Top-Schiedsrichter und ZDF-Experte Urs Meier zu Saisonbeginn der "Zeit": "Es gibt zwei Wahrheiten: die auf dem Platz und die am Fernsehen. Ich weiß es aus meiner Tätigkeit als TV-Experte."
Deshalb soll der VAR eigentlich nur eingreifen, wenn "eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Platz vorliegt". So schreibt es der DFB in seinen Richtlinien.
Was ist ein klarer Fehler?
Doch lässt auch diese Regel Interpretationsspielraum: "Das Hauptproblem ist zu definieren: Was ist ein klarer Fehler?", betont Jochen Drees, der beim Deutschen Fußball-Bund VAR-Projektleiter ist, im Gespräch mit dem NDR.
"Diese Grenzziehung ist in einem Regelwerk nicht so richtig möglich. Und daran krankt das ganze System bis heute", so Feuerherdt.
Sicher nicht im Geiste der Vorgabe ist es, wenn der VAR nach Ansicht einer Superzeitlupe ein Handspiel moniert, wie vor Kurzem bei der Partie Hertha BSC - Mainz 05 geschehen. Niemand auf dem Platz hatte das vermeintliche Vergehen gesehen.
In solchen Fällen wird der VAR zu einem aktiven und entscheidenden Akteur - eine Rolle, die er eigentlich nie einnehmen sollte.
"Lasst die Spieler das Spiel entscheiden"
Eine deutlich höhere Eingriffsschwelle, bessere Kommunikation und die Rückbesinnung auf den ursprünglichen Zweck des VAR könnten die Akzeptanz des Video-Assistenten erhöhen.
Im US-Sport gibt es mit Blick auf das Eingreifen der Schiedsrichter die schöne Maxime: "Lasst die Spieler das Spiel entscheiden". Und eben nicht übereifrige Schiedsrichter in einem Keller in Köln.