Sportschau-Experte Broich: "Daten widersprechen oft unserer Intuition"
Daten werden im modernen Profifußball immer wichtiger - sagt Thomas Broich. Der Ex-Profi, TV-Experte und Leiter des Bereichs Methodik in der Juniorenabteilung von Hertha BSC spricht im NDR Interview über "Laptop-Trainer", Daten-Skepsis und die für ihn magische Verbindung zwischen Analyse und Erfahrung.
Herr Broich, welche Rolle spielen Daten für Ihre Arbeit als Sportschau-Experte und Co-Kommentator, aber auch in Ihrem beruflichen Alltag bei der Hertha?
Thomas Broich: Eine sehr große! In unterschiedlichster Form. Es gibt Daten, die für das Publikum interessanter sind. Und es gibt Zahlen, die für uns im Sinne der Ausbildung eine gewisse Relevanz haben. Es gibt wenig, das nicht ausgewertet und interpretiert werden kann. Für mich ist das momentan eine schöne Spielwiese.
Dennoch ist es nach wie vor anscheinend nicht unüblich in den Medien, ohne Daten in die Spielanalyse zu gehen. Woran liegt das?
Broich: Da gibt es sicher verschiedene Gründe. Es gibt vielen Metriken gegenüber immer noch eine gewisse Grundskepsis. Aber Fußball ist auch ein sehr komplexer Sport. Die Datenwelle ist aus den USA zu uns rübergeschwappt. Und im Basketball und Baseball ist es den nötigen Tick einfacher, sofort klare Rückschlüsse zu ziehen.
Das ist im Fußball auch möglich. Aber wir tasten uns da erst ran. Und vieles davon ist auch "Trial and Error" - was ist für uns wirklich belastbar und hat großen Nutzen. Also Thema Packing oder Expected Goals. Aber auch solche Modelle wie "Expected Possession". Es gibt Zahlen, mit denen man nachvollziehen kann, wie sich die Spielsituation nach der Ballaktion eines Spielers verändert hat. Das ist aufschlussreich, um die Qualität eines Spielers zu bewerten.
Es gibt in Europa mittlerweile einige Daten-gestützte Fußball-Projekte. In der Europa League sorgt Union Royale Saint-Gilloise aus Belgien für Furore. Investor Tony Bloom hat zudem die Fäden bei Brighton and Hove in der englischen Premier League in der Hand. Was sagt es über die Strukturen im Profifußball aus, dass Externe, die einfach genauer hin- und auf die Daten gucken, mit entsprechenden Transfers schnell sehr erfolgreich sein können?
Broich: Es braucht schlicht Zeit, bis sich neuartige Arbeitsweisen und Denkmodelle verbreiten. Zumal der Eindruck entstehen könnte, dass sie uns als Experten überflüssig machen. Aber so ist es nicht - es kommt auf beides an.
Wir haben es beim Scouting oft erlebt, dass man Volltreffer landen kann, wenn man sich nicht nur aufs Bauchgefühl verlässt, sondern datenbasiert arbeitet. Aber ich glaube durchaus, dass es das sogenannte "Diamant-Auge" gibt, dass Trainer oder Scouts Spieler auf eine ganz besondere Weise lesen können. Ich sehe in der Verbindung dieser zwei Komponenten den ganz großen Gewinn für uns.
Wo stößt die Arbeit mit Daten an Grenzen?
Broich: Die für uns besonders interessanten Metriken funktionieren häufig über Wahrscheinlichkeit und der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten ist oft schwierig, weil vieles unserer Intuition widerspricht. Wenn am Wochenende fünf Weitschusstore fallen, fällt es einem schwer zu glauben, dass von hundert Schüssen außerhalb des 16ers nur drei reingehen. Zudem ist Fußball ein sogenanntes "Low-Scoring Game", da spiegelt das Ergebnis das Spiel häufig sehr unzureichend wider. Wir neigen als Menschen dann schnell zu voreiligen Schlüssen, obwohl die "Sample Size" das gar nicht zulässt.
Die Clubs greifen mittlerweile auf eine Vielzahl von Daten zu. Wie war das in Ihrer Zeit im deutschen Profifußball von 2001 bis 2009 - haben Daten eine Rolle gespielt?
Broich: Nein, überhaupt nicht. Das war in unserer täglichen Arbeit nicht wichtig. Vieles ist aber wahrscheinlich von den Experten intuitiv verstanden worden. So wie wir damals gesagt haben: Hau den Ball aus spitzem Winkel unters Dach. Oder: Versuch, den Ball durch die Beine zu schießen. Auch das Thema Weitschuss-Tore: Viel schießen bringt halt leider nicht viel.
"Wenn am Wochenende fünf Weitschusstore fallen, fällt es einem schwer zu glauben, dass von hundert Schüssen außerhalb des 16ers nur drei reingehen." Thomas Broich
Es gab viele Trainer, die wussten, dass man bessere Tormöglichkeiten kreieren muss. Und die brauchten dafür keine zahlenmäßige Validierung.
War das in Australien, wo Sie in den folgenden sieben Jahren den zweiten Teil Ihrer Karriere bei Brisbane Roar verbracht haben, anders?
Broich: Die Australier waren vor allem im Bereich Sportwissenschaft sehr weit. Als in Deutschland noch althergebracht trainiert wurde, habe ich in Australien 2010 schon heute hierzulande übliche Trainingsmethoden kennengelernt. Das ist ein "kleines", aber innovatives Land, das sich gezwungen sieht, neue Wege zu erschließen. Da war Australien durchaus Vorreiter. Daten waren aber auch kein Thema. Allerdings gab es die wirklich interessanten Zahlen damals noch gar nicht.
Die Datenprofis erfassen heute längst nicht nur Ballbesitz, Zweikampfquoten oder Torschüsse. Es gibt auch genaue Zahlen über die Art der Pässe, Spieltempo und Expected Goals. Haben Sie sich in Ihrer Karriere mal von einem Trainer ungerecht bewertet gefühlt - vielleicht gerade weil solche Daten noch nicht zur Verfügung standen?
Broich: Ich habe mich immer ungerecht behandelt gefühlt! (lacht) Nein, Spaß beiseite. Mir hätten sicher Daten zu "Secondary Assists" geholfen. Ich war an vielen guten Szenen beteiligt, aber nicht als Vorlagengeber in letzter Instanz oder Torschütze. Da waren meine Werte dünn - und das wurde sehr kritisch gesehen. Ich glaube, dass das anders ausgesehen hätte, wenn man den vorletzten oder den Pass, der die Spielsituation geöffnet hat, miteinbezogen hätte.
In der A-League war das Niveau nicht so gut - und da hatte ich mehr Output. Und da war sofort wieder greifbar: Das ist ein guter Spieler! Der hat über all die Jahre 50 Tore aufgelegt! Aber diesen unmittelbaren Zusammenhang vom Spieler zum Tor gibt es eben oft nicht.
Sie hatten in Ihrer Karriere ja einige Originale als Trainer: Von Rudi Bommer über Dick Advocaat und Christoph Daum bis Dieter Hecking. War da jemand seiner Zeit voraus in Sachen Spielverständnis?
Broich: Die waren alle auf ihre Art modern und hatten besondere Steckenpferde, auf die sie Wert gelegt haben. Der Trainer, der mich am nachhaltigsten geprägt hat, war Ange Postecoglou, unter dem ich in Australien gearbeitet habe. Der hatte das Thema "Goal Zone" schon verstanden, bevor es so ein großes Thema war.
"In der Verbindung aus Videoanalyse und Erfahrung liegt die Magie. Wir sollten den Fußball niemals unnötig verkopfen und doch stetig versuchen, ihn noch besser zu durchdringen." Thomas Broich
Der wollte einfach nicht, dass wir aus der Distanz schießen oder von der Seitenlinie flanken. Er hatte genaue Schnittstellen ausgemacht, über die wir einfallen sollten. Und das perfekte Tor war dann durch die "Assist Zone" gespielt und vor dem Tor noch mal quergespielt. Distanzschüsse und Flanken waren nur ein Mittel, um den Gegner hinten rauszulocken. Aber es war immer klar, dass das der schlechteste Weg war, um Erfolg zu haben.
Wobei ich mittlerweile relativierend hinzufügen muss, dass Studien ergeben haben, dass fußballerisch überschaubare Teams sich durchaus dieser Mittel bedienen sollten, um die Chance auf Erfolg zu steigern.
Ihnen haftete als Spieler ja ein ganz besonderer Ruf als Frei- und Feingeist an - und sie haben ihn durchaus gepflegt. Hätten Sie sich als Aktiver mit dem heutigen Wust an Zahlen gern auseinandergesetzt?
Broich: Das würde ich eher bei den Trainern, Scouts und Analysten ansiedeln. Als Spieler hat die Videoanalyse die größte Relevanz. Und da hilft es natürlich, wenn bestimmte Themen durch Zahlen untermauert werden. Es schärft die Sinne, wenn ich beispielsweise weiß, dass bei 73 Prozent aller Umschalttore mit dem ersten Pass mindestens zwei Gegenspieler überspielt werden. Mit diesem Wissen im Gepäck gehe ich vielleicht beim nächsten Ballgewinn noch mehr ins Risiko, anstatt den Ball erst mal zu sichern.
Es ist mittlerweile fast sieben Jahre her, dass Mehmet Scholl die Generation der "Laptop-Trainer" kritisierte - und traf damit sicher auch das Gefühl manches Fans, dem der Fußball zu viel von seinem ursprünglichen Charme verloren gegangen ist. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Broich: Ich unterstelle mal, dass damit gemeint ist, dass man nur am Bildschirm sitzt - also theoretisch arbeitet und da eine gewisse Praxisnähe vermisst worden ist. So etwas verstehe ich schon irgendwo. Aber man darf das nicht als ausschließlich begreifen. In der Verbindung aus Videoanalyse und Erfahrung liegt die Magie. Wir sollten den Fußball niemals unnötig verkopfen und doch stetig versuchen, ihn noch besser zu durchdringen. Und ich glaube, dann sind auch Mehmet Scholl und Co. wieder mit dabei.
Wie wichtig ist denn Ihre Erfahrung als Ex-Profi heute für Ihre Arbeit als Experte?
Broich: In den Daten und Videobildern liegt nie so etwas wie Erfahrung. Wenn man noch genau nachvollziehen kann, wie bestimmte Drucksituationen waren oder wie es sich anfühlt, bestimmte Pässe zu versuchen, dann hat man für das Geschehen ein anderes Gefühl. Ich bin aus dem Grund wohl auch sehr nachsichtig.
Ich habe das Spiel auf dem Level als sehr anspruchsvoll empfunden. Und ich möchte gar nicht wissen, wie es heutzutage ist. Das Spiel wird ja immer noch schneller und gnadenloser. Besonders in der Champions League werden Fehler eiskalt bestraft. Und da hilft es schon, wenn man diese Spielersicht nie ganz ablegt.
Das Gespräch führte Florian Neuhauss