Holstein-Stürmer "Otschi" Wriedt: Viele Wege führen ins Glück
Kwasi Okyere Wriedt musste hart kämpfen, um den Sprung in den Profifußball zu schaffen. Weil er sich nicht davor scheute, einen Schritt zurückzugehen, um einen vorwärts zu kommen, gelang dem heutigen Angreifer von Holstein Kiel doch der Durchbruch.
Die ungewöhnliche Geschichte des Stürmers, der von seinen Freunden und Teamkameraden nur "Otschi" gerufen wird, beginnt in der Wendenstraße im Hamburger Arbeiterquartier Hamm. Hier liegt der Ernst-Fischer-Spielplatz. Der Name ist allerdings etwas irreführend. Denn hinter einem stählernen Zaun befinden sich zwei Plätze. Genau genommen sind es Grandplätze, von denen es in der Hansestadt sonst kaum noch welche gibt. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein.
Erste fußballerische Schritte auf roter Asche
Denn auch der gleich neben dem Eingang liegende zweistöckige Umkleidetrakt sieht noch genau so aus wie 1999, als Wriedt beim hier beheimateten SC Hamm 02 mit dem Fußball spielen begann. Fünf Jahre alt war der heutige KSV-Stürmer seinerzeit. Wenn er und seine Teamkameraden sich umziehen wollten, mussten sie erst einmal an Platzwart Uwe Schomann vorbei. Genau genommen an Sportplatzwart Uwe Schomann. Auf diesen Zusatz bestand der frühere Post-Beamte, der beim kleinen Verein aus dem Hamburger Osten jahrelang die graue Eminenz war, nämlich.
Der eingefleischte Werder-Bremen-Fan war streng, aber herzlich - und stets hilfsbereit. Selbiges trifft auf die vielen ehrenamtlichen Jugendcoaches des Clubs zu, bei dem das Geld immer knapp war. Die größte Ressource des Vereins ist seit jeher das Herzblut seiner Trainer und Betreuer.
Jugendcoach Jander: "Er war weiter als die anderen"
Andreas Jander ist einer von denen, die bei Wind und Wetter den Knirpsen das Kicken beibringen. Der heutige Coach der F-Junioren hatte Wriedt damals beim Sportclub Hamm von 1902, wie Sportplatzwart Schomann den Vereinsnamen stets aussprach, unter seine Fittiche genommen. Dass er ein großes Talent trainierte, ahnte Jander schon damals. "'Otschi' war von klein auf fußballerisch einen Schritt weiter als die anderen. Er hat früher aus ich weiß nicht wie vielen Metern die Dinger in den Toren versenkt. Das war wirklich faszinierend", erinnerte sich der Coach.
Der Kontakt zu Wriedt ist nie abgerissen. Davon zeugen auch zwei Trikots des heutigen Berufsfußballers, die über Getränkekisten an einer Wand im Keller des Vereinshauses hängen. Das eine stammt aus seiner Zeit beim VfL Osnabrück (2016 bis 2017), das andere ist vom FC Bayern München, für dessen zweite Mannschaft der Angreifer von 2017 bis 2020 auflief. "Es würde mich freuen, wenn er wieder mal vorbeikommt", sagte Jander.
Wriedt hat seine Anfänge nicht vergessen
Das wird Wriedt ganz bestimmt. Denn der 28-Jährige hat seine Anfänge nicht vergessen. "Ich verbinde noch sehr viel mit der Zeit. Dort habe ich das Fußball spielen gelernt. Es war eine sehr, sehr schöne Zeit, die mich bis heute geprägt hat. Ich glaube, dass mein Spielstil, den ich heute pflege, meiner Kindheit geschuldet ist", sagte der aktuell verletzte Holstein-Profi im NDR Sportclub.
Der auf roter Asche groß gewordene Wriedt bezeichnet sich selbst als "Straßenfußballer". Er mache Sachen, "mit denen einfach keiner rechnet", erklärte der Torjäger. Einer seiner besten Freunde, mit dem er noch regelmäßig in der Freizeit kickt, kann das nur bestätigen. "Technisch war er schon immer sehr, sehr stark. Ganz gefährlich ist es, wenn wir mit ihm in der Halle sind. Wenn er dann seine Technik auspackt, ist das schon albern", schwärmte Ulas Dogan, selbst ambitionierter Oberliga-Kicker beim TSV Sasel, von Wriedts Fähigkeiten.
Bei St. Pauli im Herrenbereich aussortiert
Ein feines Füßchen hatte der Stürmer also schon immer. An der Einstellung aber mangelte es ihm ein wenig, als er erwachsen wurde. "Früher war ich ein bisschen faul und habe mich zu sehr auf mein Talent verlassen", gab der 28-Jährige offen zu. So geriet seine Karriere ins Stocken. Denn nachdem er Hamm 2008 nach neun Jahren in Richtung Concordia Hamburg verlassen hatte und dann in die Jugendabteilung des FC St. Pauli gewechselt war, misslang ihm beim Zweitligisten der Sprung in den Profikader.
Nach zwei Spielzeiten im Dress der U23 musste Wriedt den Kiezclub verlassen. "Das war ein sehr schwerer Moment, weil es ein großer Traum von mir war, dort später Profi zu werden", sagte der Angreifer.
Neubeginn in Lüneburg
Wie sehr Wriedt das Aus am Millerntor mitgenommen hatte, bemerkte anschließend auch Elard Ostermann, der seinerzeit den Lüneburger SK coachte. "Er kam eigentlich ohne Spielpraxis und Selbstvertrauen zu uns", erzählte der frühere Bundesliga-Fußballer des HSV dem Sportclub. Der Trainer musste aber gar nicht so viel Aufbauarbeit bei seinem Neuzugang leisten. Denn Wriedt hatte selbst begriffen, dass er etwas ändern musste. "Nach dem Abgang von St. Pauli habe ich gemerkt, dass Talent allein nicht ausreicht, sondern auch harte Arbeit dazugehört, um in den Profibereich zu kommen beziehungsweise sich dort zu etablieren", erklärte der Stürmer.
"Das Jahr in Lüneburg war sehr, sehr wichtig für mich, um dort zu zeigen, dass ich auch hart arbeiten kann." KSV-Stürmer Kwasi Okyere Wriedt über seine Saison beim Lüneburger SK
Mit klarem Kopf klappte es plötzlich auch wieder mit dem Toreschießen. 23 Treffer erzielte der Hamburger Jung' in der niedersächsischen Provinz. "Er hat sich in relativ kurzer Zeit mit seiner Art, wie er Fußball spielt, in die Herzen aller Lüneburger geschlichen", sagte Ostermann.
Profi-Durchbruch beim VfL Osnabrück
Apropos geschlichen: Nach einer Saison beim LSK schlich sich der Publikumsliebling davon. Sein nächstes Ziel war die Bremer Brücke. Wriedt wechselte zum VfL Osnabrück und machte beim Drittligisten dort weiter, wo er in Lüneburg aufgehört hatte: mit dem Toreschießen. Zwölf Treffer gelangen ihm in seiner Premieren-Saison als Profi, dazu acht Vorlagen. Eine Bilanz, die Begehrlichkeiten bei Zweitligisten weckte.
Überraschender Wechsel zum FC Bayern München II
Doch den Stürmer zog es nicht ins Bundesliga-Unterhaus, sondern wieder in die Regionalliga. Er unterzeichnete einen Vertrag bei der U23 des FC Bayern München. Eine Entscheidung, die in der Fußball-Fachwelt damals durchaus für Erstaunen sorgte. Die Verantwortlichen hätten ihm damals gesagt, dass es mit Robert Lewandowski nur einen echten Mittelstürmer im Profikader gäbe und der Weg dorthin zwar weit, aber nicht verschlossen sei, erklärte Wriedt im Sportclub.
Wriedt lief für Rekordmeister in Pokal und Bundesliga auf
Und tatsächlich rutschte der Angreifer rasch in die Münchner Millionen-Mannschaft. Am 25. Oktober 2017 kam er im DFB-Pokalspiel gegen RB Leipzig als "Joker" erstmals für die Profis des Rekordchampions zum Einsatz und hätte beinahe einen Treffer erzielt. Die Latte verhinderte dies. Im fernen Hamburg fieberten seine Freunde in einer Sportsbar mit. "Als er fast das Tor gemacht hat, haben wir beinahe den Laden auseinandergenommen", berichtete Kumpel Zamani Badawere. "Das war ein unglaublicher Moment."
Dem 28-Jährigen schenkte Wriedt übrigens später jenes Trikot, das er im Duell mit den Leipziger RasenBallsportlern trug.
Torschützenkönig und Meister in Dritten Liga
Eine feine Geste, die vom engen Verhältnis zeugt, das der Berufsfußballer noch heute mit seinen Jugendfreunden hat. Zumal es eine seltenes Erinnerungsstück ist. Denn beim FCB kamen nur noch zwei weitere Bundesliga-Kurzeinsätze dazu. Beide kurioserweise gegen Borussia Mönchengladbach. Ansonsten lief Wriedt sehr erfolgreich für das Reserveteam auf. Er stieg mit der U23 in die Dritte Liga auf, wurde dort mit der Mannnschaft sensationell Meister und zudem mit 24 Treffern Torschützenkönig. Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch bereits sein Debüt für die Nationalmannschaft Ghanas gefeiert.
"Natürlich habe ich gehofft, mich dort als Backup für Lewandowski etablieren zu können." Kwasi Okyere Wriedt über seine Zeit beim FC Bayern München
Der dauerhafte Sprung ins Profiteam blieb dem Angreifer dennoch verwehrt. "Natürlich habe ich gehofft, mich dort als Backup für Lewandowski etablieren zu können. Ich bin aber trotzdem mit der Zeit zufrieden", sagte er.
Erst Niederlande-Intermezzo, dann Wechsel nach Kiel
Und wenn auch nicht beim FCB und in Deutschland, so schaffte der Hamburger anschließend doch den Aufstieg in die Erste Liga. Wriedt wechselte in die niederländische Eredivisie zu Willem II Tilburg. Eineinhalb Jahre lang ging der 28-Jährige für den dreimaligen Meister auf Torejagd. Dann brach er seine Zelte in der Provinz Noord-Brabant ab und schloss sich Anfang Januar 2022 Holstein Kiel an.
Im Dress der KSV erfüllte sich auch sein Traum, einmal als Profi im Millerntorstadion auflaufen zu können. Beim torlosen Remis am 8. November des vergangenen Jahres stand Wriedt unter den Augen vieler Freunde und Bekannte in der Startformation. Sie alle und natürlich er selbst durften mächtig stolz sein an diesem Tag, hatte ihm St. Pauli doch einst für sportlich zu leicht für den Berufsfußball befunden.
"Ich habe einen guten Weg gemacht"
"Ich glaube, ich habe einen ganz guten Weg gemacht", sagte Wriedt im Sportclub. Ob Kiel die letzte Station seiner ungewöhnlichen Fußball-Reise sein wird, bleibt abzuwarten. Beim SC Hamm 02, wo alles begann, werden sie seinen Werdegang natürlich weiter gespannt verfolgen.
Denn: "Für unseren Verein ist es natürlich super, wenn man Jugendspieler hat, die sich so entwickeln. Dann hat man bestimmt im Training viele Sachen richtig gemacht", sagte Wriedts Jugendcoach Jander.