Hakan Sükür: Türkischer Fußball-Held ohne Heimat
Vor neun Jahren musste Hakan Sükür seine Heimat Türkei verlassen. Die türkische Regierung um Präsident Erdogan nennt der prominenteste und erfolgreichste türkische Fußballer ein "diktatorisches Regime". Im exklusiven ARD-Interview spricht der 52-Jährige zum ersten Mal seit Jahren über sein neues Leben in den USA und seine Sicht auf die Politik in der Türkei.
Bei den EM-Spielen der Türkei kann Hakan Sükür nur aus der Ferne mitfiebern. Sükürs heutiger Lebensmittelpunkt ist Kalifornien, genauer gesagt: Palo Alto, ein Vorort von San Francisco. Und das nicht wirklich freiwillig.
Nach langer Kontaktaufnahme und jahrelangem Zögern stimmte der 52-Jährige einem ARD-Interview und Dreharbeiten in seiner neuen Heimat zu. Nach einem ersten Frühstück zum Kennenlernen bei türkischem Tee und Baklava wird deutlich: Sükür ist nicht mehr der fitteste. Er läuft, wie eben frühere Strafraumstürmer laufen. Und: Er ist ein höflicher, freundlicher, aber auch trauriger und bisweilen verärgerter Mann.
"Die Gesellschaft, die über die Medien systematisch einer Gehirnwäsche unterzogen wird, handelt nur noch unter Sorge und Beobachtung - und zwar von einem mafiaähnlichen System, das alle Institutionen des Staates übernommen hat." Hakan Sükür
UEFA-Cup-Sieger, WM-Dritter, türkischer Rekord-Torjäger
Sükür ist der prominenteste und erfolgreichste Fußballer der Türkei. Mit dem ehemaligen Nationalmannschafts-Kapitän verbinden die meisten türkischen Fans die beste Epoche des türkischen Fußballs. Mit Galatasaray Istanbul gewinnt Sükür 2000 den UEFA-Cup - mit der türkischen Nationalmannschaft wird er 2002 sensationell WM-Dritter. Bei der Weltmeisterschaft in Südkorea und Japan schießt Sükür im Spiel um Platz drei das schnellste Tor der WM-Geschichte - nach nur zwölf Sekunden.
Mit 249 Treffern in 489 Partien ist Sükür Rekordtorschütze der türkischen Süper Lig und mit 51 Toren immer noch der erfolgreichste Torjäger der türkischen Nationalmannschaft.
Persona non grata in der Türkei
In der Heimat aber ist er eine Persona non grata. Sükür ist ein Thema, bei dem viele Menschen in der Türkei Angst haben, sich zu äußern. Bei der WM in Katar erwähnte ein Sportreporter während eines Gruppenspiels den Namen Sükürs - der Kommentator wurde noch in der Halbzeit ausgewechselt. Sein Stammclub Galatasaray Istanbul entzog Sükür die Mitgliedschaft - angeblich wegen nicht gezahlter Mitgliedsbeiträge.
Auf der Homepage des Vereins findet man keine Erinnerungen an Hakan Sükür. Die berühmteste Figur des türkischen Fußballs findet in seiner Heimat nicht mehr statt. In Deutschland wäre das vermutlich damit vergleichbar, wenn Lothar Matthäus' Name nicht mehr genannt werden darf oder Uwe Seeler nicht mehr im Vereinsmuseum des HSV auftauchen würde.
"Alles, was ich habe, ist in der Türkei"
"Es ist mein neuntes Jahr. Mit meinen Kindern, mit meiner Familie. An einem schönen Ort. Aber angesichts meiner Erfahrungen und Einschätzungen kann ich nicht sagen, dass ich von diesen Schönheiten viel profitiert habe", beschreibt Sükür seine Gefühlswelt in den USA. "Ich bin in einem anderen Leben. Alles, was ich habe, ist in der Türkei."
Sükür sympathisierte mit Gülen-Bewegung
2015 musste Sükür seine Heimat verlassen. Ihm wurde zu viel Nähe zur Gülen-Bewegung und staatsfeindliche Äußerungen gegenüber Präsident Recep Tayyip Erdogan vorgeworfen. 2016 kam es in der Türkei zum gescheiterten Putschversuch, für den Erdogan bis heute die Gülen-Bewegung mit dessen geistlichen Führer Fettulah Gülen verantwortlich macht. Dieser lebt auch in den USA. Sükür hatte mit Gülen sympathisiert. Auch deshalb wurde ein nationaler Haftbefehl erlassen und Sükür floh in die USA. Zudem wurde Sükürs Vater festgenommen und Sükürs Vermögen eingefroren.
"Das Leben in der Türkei war schon vor dem Putschversuch und nach meinem Austritt aus der Partei sehr giftig für mich", erzählt Sükür. "Meine Frau hatte ein Geschäft, in dem sie Handstickereien anfertigte und ihren eigenen künstlerischen Tätigkeiten nachging. Das wurde mit Steinen beworfen. Meine Kinder und ich wurden ständig belästigt. Wir standen unter ständigem Druck der Medien. Es ist als bekannter und berühmter Mensch nicht möglich, irgendwohin zu fliehen."
Seit 2016 mussten viele systemkritische Türken die Heimat verlassen. Ein Dekret von Präsident Erdogan sorgte für die Entlassung und Verhaftung zahlreicher Beamter. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied später, dass tausende Anhänger der Gülen-Bewegung zu Unrecht verurteilt worden seien. Sükür nennt die Erdogan-Regierung ein "diktatorisches Regime." 2011 hatte Sükür noch für Erdogans AKP im Parlament kandidiert, trat aber 2013 zum Unmut Erdogans aus.
"Unabhängig von allem anderen rufe ich alle Menschen auf, die ich auf der Welt erreichen kann: Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich decke nur die Verbrechen von Menschen auf, die schwere Verbrechen begangen haben." Hakan Sükür
Sorgen um die Eltern in der Türkei
In Kalifornien arbeitet Sükür nun für einen Online-Versand, würde gerne eine Akademie für junge Fußballer aufbauen. Außerdem kickt er jede Woche auf dem Football-Platz der Palo Alto Vikings. Der "Bulle vom Bosporus" ist nicht mehr der schnellste, aber beim Zusehen ist schnell zu erkennen, dass da ein Stürmer auf dem Platz steht, der einst bei Galatasaray, Inter Mailand und dem AC Parma unter Vertrag stand.
Beim Hobbykick mit seinen Freunden aus aller Welt kann er sich ablenken und vergisst die Sorgen um die Eltern in der Heimat. Beide Elternteile Sükürs leiden an Krebs, er kann sie nicht besuchen.
Entführungsdrohungen gegen seine Töchter
Und auch wenn er weit weg ist, die Bedrohung aus der Heimat spürt Sükür auch in Kalifornien. Der ehemalige Stürmer berichtet von Entführungsdrohungen gegen seine Töchter und wie hin und wieder verdächtige Gestalten um ihn herum auftauchen. Manchmal muss er schnell noch die Adresse für sein Fußballtraining ändern.
Kontakt zu ehemaligen Mitspielern hat Sükür wenig. Manche haben ihn gebeten, sich doch endlich systemtreu zu äußern. Um wieder in die Heimat zu dürfen, um seinen Ruhm wieder zu genießen. Gelegentlich hat er sogar mit diesem Gedanken gespielt. Seine Tochter stimmte ihn aber vehement um. Wenn du so etwas tust, werde ich dir nie wieder ins Gesicht sehen, habe sie zu ihm gesagt. "Ein Kind, das jahrelang von seinen Freunden getrennt war. Es war eine sehr beeindruckende Szene."
Erdogan will ein prominentes Exempel statuieren
Sükür hofft darauf, eines Tages ein gerechtes Verfahren zu bekommen, auch wenn er das zurzeit anzweifelt. Er wirft der türkischen Regierung fehlenden Willen zur Pressefreiheit vor und dass sie Gehirnwäsche mit der Bevölkerung betreibe. An ihm wolle Erdogan eben ein prominentes Exempel statuieren.
"Die Gesellschaft, die über die Medien systematisch einer Gehirnwäsche unterzogen wird, handelt nur noch unter Sorge und Beobachtung - und zwar von einem mafiaähnlichen System, das alle Institutionen des Staates übernommen hat", sagt Sükür, der in der Türkei ein Land sieht, "in dem viele verschiedene Minderheiten existieren. Leider wird ein großer Völkermord an der Hizmet-Bewegung verübt."
Die in Deutschland lebenden Türken haben in der Mehrheit Erdogans AKP-Partei gewählt. Mit einer Verurteilung des einstigen Nationalhelden tun sie sich jedoch schwer. Manche wollen die Politik aus dem Fußball heraushalten. Andere, mitunter sogar Anhänger des "Feindes" von Sükürs Ex-Club Galatasaray, Fenerbahce Istanbul, vertreten den Standpunkt, Sükür sei eine Legende und habe sehr viel für den türkischen Fußball getan.
Sükür vermisst seine türkische Heimat
Sükür selbst vermisst täglich seine Heimat, seine Eltern. Auch wenn er sein neues Leben bisweilen genießen kann. Es gibt sicher schlimmere Orte als die Bay Area bei San Francisco. Seit einem Jahr hat Sükür eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.
Beim Hobbykick mit seinen neuen Bekannten in Palo Alto trägt er sogar das Galatasaray-Trikot. Dem Club, der ihm die Mitgliedschaft entzogen hat. Am Ende des Freizeitkicks trifft der "Bulle vom Bosporus", seine Mitspieler jubeln mit ihm. Sükür würde ihnen gern eines Tages seine Heimat zeigen, wenn er denn darf. Auf sein gerade erzieltes Tor angesprochen sagt er nicht ohne Stolz: "Ich habe 249 Tore für Galatasaray geschossen. Das war gerade mein 250."
Mehr zum Thema gibt es am 15. September in der Sportclub Story im NDR Fernsehen und in der ARD Mediathek.