"Habe das Gefühl zu ersticken" - Analyse zur Belastung im Profifußball
Antonio Rüdiger stand in der Saison 2021/2022 im Schnitt knapp 100 Minuten pro Partie auf dem Platz, Antoine Griezmann brachte es in einer Spielzeit auf 72 Partien: Der Profifußball ist ein Hamsterrad, das sich immer schneller dreht. Die NDR Datenanalyse der fünf europäischen Topligen zeigt, dass die Belastung auf diesem Niveau immens ist. Aber es gibt einen Corona-Effekt, der entschleunigt.
Raphaël Varane hat die Reißleine gezogen. Mit 29 Jahren erklärte der Profi von Manchester United seinen Rücktritt aus der französischen Nationalmannschaft und begründete seinen Schritt mit drastischen Worten. "Der Spieler verschlingt den Menschen. Ich bin da, ohne da zu sein. Im Moment habe ich das Gefühl zu ersticken", sagte der Weltmeister von 2018 dem Fernsehsender "Canal Plus". Es klang wie ein Hilferuf.
"Fußball auf allerhöchstem Niveau ist wie eine Waschmaschine, man spielt die ganze Zeit und hört nie auf." Raphaël Varane
29 Spiele hat Varane in der laufenden Saison bislang bestritten und dabei 2.487 Minuten auf dem Platz gestanden. Der Innenverteidiger hat in zehn Jahren 93 Länderspiele für die französische Auswahl gemacht. Das verlorene Finale in Katar gegen Argentinien am 18. Dezember war das letzte. Neun Tage später stand Varane wieder in der Premier League für Manchester United auf dem Platz und sicherte einen 3:0-Erfolg gegen Nottingham.
WM im Dreijahresrhythmus?
"Es geht immer weiter", hat "Titan" Oli Kahn einst gesagt. Richtige Pausen für Körper und Geist kennt das Hamsterrrad Profifußball nicht. Im Gegenteil. Zahlreiche Topclubs arbeiten weiter an der Einführung der Super League und die FIFA denkt offenbar über eine Weltmeisterschaft im Dreijahresrhythmus nach. Sicher ist, dass bei der WM 2026 in Mexiko, USA und Kanada erstmals 48 Mannschaften teilnehmen. Zudem soll die Club-Weltmeisterschaft ab dem Jahr 2025 mit 32 Teams ausgespielt werden.
Kovac: "Belastungsgrenze ist schon erreicht"
Frisst der nimmersatte Profifußball seine Kinder auf? Sportmediziner Dr. Thorsten Dolla sieht diese Gefahr. "Wenn der Weg der Belastung in der Form weitergeht, dann wird der Punkt kommen, wo wir nicht mehr darüber reden können, dass der Fußball schneller und besser geworden ist, sondern dass weniger Spieler da sind", sagt der ehemalige Mannschaftsarzt von Hertha BSC und Union Berlin im NDR Interview.
"Der Fußball muss lernen, in erster Linie die Offiziellen, dass man Wettbewerbe reduzieren muss. Das alles bringt aus monetärer Sicht Erfolg. Aber es zerstört zum Schluss den Sportler." Sportmediziner Dr. Thomas Dolla
Für Niko Kovac, ehemaliger Weltklasse-Profi und heutiger Bundesligatrainer des VfL Wolfsburg, ist "die Belastungsgrenze schon erreicht". "Man sieht, dass die Spieler, die viele Spiele haben, immer mal wieder verletzt sind oder eben nicht all' das zeigen können, was sie draufhaben. Auch das sind Menschen, die nicht alle drei Tage 'High-Intensity-Fußball' spielen können."
Mbappé mit Muskelverletzung
Das müssen Top-Profis wie Kylian Mbappé aber. Der Franzose hat in dieser Saison bereits 38 Spiele gemacht und 3.242 Minuten in den Beinen. Aufgrund einer Muskelverletzung musste der 24 Jahre alte Superstar von Paris St. Germain vor dem Champions-League-Achtelfinalhinspiel gegen den FC Bayern München am Dienstag pausieren. Teamkollege Lionel Messi (Sehnenverletzung), der im WM-Finale mit Argentinien über Mbappés Franzosen triumphierte, klagte über eine Sehnenverletzung. Beide nahmen am Montag allerdings am Abschlusstraining von PSG teil.
Mbappé wandelt bei seinem aktuellen Pensum auf den Spuren seines französischen Landsmanns und Rekordhalters Antoine Griezmann (Atletico Madrid), der es in der Saison 2017/2018 auf 72 Spiele brachte - dafür aber auch den WM-Pokal in den Händen halten durfte. Der Portugiese Bruno Fernandes (Manchester United) absolvierte in der Saison 2020/2021 ebenfalls 72 Partien und steht in der laufenden Saison schon wieder bei 40.
Die Anzahl der Spiele variiert natürlich, je nachdem in welcher Liga die Profis aktiv sind, wie weit die Clubs international kommen und ob große Turniere anstehen. Unter den fünf Topligen ist die Bundesliga die einzige mit nur 18 Teams, während es in den anderen 20 sind. Manchester City hat als "Spitzenreiter" in den vergangenen fünf Spielzeiten im Schnitt 59 Spiele absolviert, Paris 53,6 und der FC Bayern München immerhin noch 49,6.
Antonio Rüdiger mit 99,52 Spielminuten im Schnitt
Chelsea betrat seit der Saison 2017/2018 im Schnitt 56 Mal den Platz - in der vergangenen Saison waren es sogar 60 Partien. Dabei ging es in den K.o.-Spielen oft in die Verlängerung. Das und die Einsätze in der deutschen Nationalmannschaft lassen Antonio Rüdiger 2021/2022 auf 6.170 Spielminuten insgesamt und 99,52 Minuten pro Spiel im Schnitt kommen! Mehr hatte keiner in dem Jahr.
Für den Abwehrspieler dürfte es nach seinem Wechsel zu Real Madrid auch nicht weniger werden. Die "Königlichen" - im Betrachtungs-Zeitraum der Analyse zwei Mal Champions-League-Sieger - kommen im Schnitt auf 55 Spiele pro Saison.
Corona-Pandemie als kleiner "Game Changer"
Gibt es auch Licht am Ende des Tunnels für die Topspieler? Ja, sofern sie nicht in der Premier League unter Vertrag stehen. Die Corona-Pandemie hat alle getroffen, auch den Fußball. Beim Thema Belastung hat sich das Virus allerdings als kleiner "Game Changer" erwiesen. Seit Mai 2020 sind mit der Ausnahme Premier League fünf Wechsel erlaubt. In England darf weiterhin nur dreimal getauscht werden. Zunächst nur eine Reaktion auf die Pandemie, entschieden die Regelhüter des International Football Association Boards (IFAB) im Frühjahr 2022, dass es bei fünf Wechsel-Möglichkeiten bleibt.
Ausnahme-Fall Premier League
Der logische Effekt: Die Minuten pro Partie sinken bei den Spielern. Stand ein Bundesligaprofi in der Saison 2017/2018 noch durchschnittlich 72,84 Minuten auf dem Platz, waren es in der Spielzeit 2021/2022 nur noch 66,29. Diese Entwicklung ist in allen Topligen außer der englischen zu beobachten, ebenso in der Champions League. Überall stieg zudem die durchschnittliche Kadergröße, in der Bundesliga von 33,33 Profis (17/18) auf 36,03 (21/22).
Ob diese entlastenden Effekte das Hamsterrad Profifußball wirklich entschleunigen können, ist fraglich. "Man muss das schon beobachten, denn bei immer mehr Spielen fällt die Qualität eher, als das sie steigt", sagt Ex-Profi Kovac.
Sportmediziner Dolla: "Schluss mit neuen Wettbewerben"
Für Sportmediziner Dolla muss mehr passieren, als genauer hinzuschauen: "Jetzt gilt es das umzusetzen, was von vielen schon seit Jahren gefordert wird: Schluss mit neuen Wettbewerben, Schluss mit der zunehmenden Belastung."
Raphaël Varane hat sich von der "Belastung" Nationalmannschaft befreit - notgedrungen.