Keeper Berraat Türker © IMAGO / Inpho Photography

Berraat Türker: Wie ein Keeper aus Hannover in Nordirland zur Legende wurde

Stand: 09.04.2024 09:55 Uhr

Für Berraat Türker müsste der Tag eigentlich mehr als 24 Stunden haben. Denn der gebürtige Hannoveraner arbeitet nicht nur als Analyst für einen großen Finanzdienstleister, sondern ist auch noch Torwart beim wohl ungewöhnlichsten europäischen Erstligisten. Der 32-Jährige hütet das Gehäuse des Loughgall Football Clubs, einem Verein aus einem 282-Seelen-Dorf in Nordirland.

von Hanno Bode

16 Rollen vom Toilettenpapier mit der niedlichen Katze auf der Verpackung für nur sieben Pfund Sterling - ein echtes Schnäppchen. Auch der Sechserpack Joghurt mit den Schokokügelchen eines deutschen Herstellers (drei Pfund) oder die zwölf Büchsen Orangenlimonade (sechs Pfund) verführen bei dem Preis zum Vorratskauf. Natürlich sind die aktuellen Angebote, die ihre Mace-Filiale in dieser Woche anbietet, gerade ein Thema für die Bewohner von Loughgall. Zumal der kleine Gemischtwaren-Laden aus Mangel an Alternativen nicht nur ein Ort zum Einkaufen, sondern auch zum Klönen ist.

Neben dem Supermarkt mit den tollen Angeboten gibt es hier noch eine Kirche, ein Museum, einen imposanten Herrensitz (Loughgall Manor) sowie den Lakeview Park, der das Stadion des örtlichen Fußballclubs beheimatet. Es bedarf keines Sportflitzers, sondern lediglich eines Fahrrads mit einigermaßen gut aufgepumpten Reifen, um das inmitten von Obstplantagen liegende Dorf gemütlich in weniger als einer Minute zu durchqueren. "Das ist in zehn Sekunden zu schaffen", berichtet Berraat Türker im Podacst "Bosses Bundesliga Blog".

Keeper spielte in Aufstiegssaison 17 Mal zu null

Für den gebürtigen Hannoveraner ist der 45 Autominuten von Nordirlands Hauptstadt Belfast entfernte Ort seit nun über dreieinhalb Jahren seine sportliche Heimat. Der Torhüter wohnt zwar wie alle seine Teamkameraden nicht in dem Dorf, kennt aber nahezu alle Bewohner "von der Tribüne oder aus dem Clubhaus", wie er sagt. Und der einzige Deutsche beim Aufsteiger in die nordirische Eliteklasse Premiership genießt hier in der europäischen Fußball-Provinz hohes Ansehen.

"Mein Trainer und einige der Vorstände meinten zu mir, dass ich jetzt schon eine Legende bin, weil ich Rekorde gebrochen habe. Sie sagten, dass ich eine Statue vor dem Clubhaus bekomme", erzählt Türker lachend. Noch haben sie dem Mann mit der bewegten Vita kein Denkmal vor dem urigen Vereinheim gebaut. Legendenstatus hat Türker bei den Fans aber auch ohne ein Monument, nachdem er in der vergangenen Serie in 33 Partien 17 Mal ohne Gegentreffer geblieben war, zum besten Spieler der Championship gewählt wurde und großen Anteil am Aufstieg des LFC ins Oberhaus hatte.

"Man wird auf alle möglichen Arten beschimpft"

"Es war die beste Saison, die ich in meiner Karriere gespielt habe. Das hat etwas mit Selbstvertrauen, Erfahrung und Reife zu tun", sagte Türker dem "Belfast Telegraph". Für den 32-Jährigen waren der Aufstieg und die Auszeichnung zum besten Spieler eine große Genugtuung. Denn bevor er 2020 nach Loughgall wechselte, hatte er im Trikot des Warrenpoint Town FC in Nordirlands Eliteklasse nur bedingt überzeugen können. Selbst von den eigenen Fans hatte es teilweise Pfiffe gegen ihn gegeben.

Seine nicht immer zufriedenstellenden Leistungen, so sagte er später, hätten auch mit dem mangelnden Vertrauen des Trainers zu tun gehabt. Dies habe er dann in Loughgall von Beginn an gespürt, so der 32-Jährige. Und auch pöbelnde und pfeifende Fans bringen ihn heute nicht mehr aus der Fassung: "Im Fußball muss man mental ziemlich stark sein. Man wird auf alle möglichen Arten beschimpft, aber ich blende es aus. Je größer das Publikum, desto besser spiele ich."

Türker träumt von Sprung in größere Liga

Die ganz große Bühne ist es allerdings noch immer nicht, auf der sich Türker nun bewegt. Der Lakeview Park fasst derzeit nur 1.300 Zuschauer und ist eher ein Ort für Fußball-Romantiker denn ein modernes Fußball-Stadion. Und auch das sportliche Niveau von Nordirlands Premiership ist im Vergleich mit den meisten anderen europäischen Eliteklassen überschaubar. Gerade einmal fünf der zwölf Clubs arbeiten unter Vollprofi-Bedingungen - Loughgall gehört nicht dazu.

"Ich habe einen Profivertrag, der ist aber nicht so dotiert, wie es vielleicht sein sollte", sagt Türker. Er verdient seinen Lebensunterhalt primär durch seine Tätigkeit als Analyst. Sein großer Traum aber ist es auch mit 32 noch, den Sprung in eine der großen Ligen zu schaffen. "Ich bin topfit und kann überall spielen", unterstreicht er selbstbewusst.

Probetrainings bei Hannover, St. Pauli und HSV platzten

2014 hätte es fast geklappt mit einem Vertrag bei einem großen Club. Hannover 96, damals noch Bundesligist, lud den Torwart zum Probetraining ein. In seiner Heimatstadt für seinen Jugendclub auflaufen zu dürfen, für Türker wäre ein Traum ein Erfüllung gegangen. Doch noch bevor er sich bei den "Roten" vorstellte, hatten die in dem Österreicher Robert Almer bereits einen neuen Keeper verpflichtet. "Dann war meine Chance weg", erklärt er noch immer verbittert.

Zuvor hatte der Sohn eines Deutschen und einer Türkin bereits bei mehreren türkischen Vereinen mittrainiert. Zu einem Vertragsabschluss war es mit keinem Club gekommen. Als sich dann auch noch die Option Hannover 96 zerschlug und auch aus den angedachten weiteren Probetrainings beim Hamburger SV und dem FC St. Pauli nichts wurde, entschloss sich der Schlussmann, eine Schaffenspause einzulegen. "Ich war mental am Boden und brauchte ein Break. Ich musste die Batterien wieder aufladen", berichtet der 32-Jährige.

Comeback nach langer Pause in Warrenpoint

Drei Jahre lang blieben die Handschuhe von Türker, der als Jugendlicher mit seinem Vater nach Nordirland ausgewandert war, im Schrank.

Keeper Berraat Türker (r.) © IMAGO / Inpho Photography
Berraat Türker (r.) spielte drei Jahre für den Warrenpoint Town FC.

Dann erinnerte sich Warrenpoint an den Keeper, der vor seiner Pause im südirischen Profifußball Erfahrungen gesammelt hatte. Der gebürtige Niedersachse arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Model, gab den Job für seine große Leidenschaft, den Fußball, dann aber auf.

Nach drei wechselhaften Jahren an der Nordküste folgte schließlich der Wechsel aus der Kleinstadt mit immerhin fast 9.000 Einwohnern in das Dorf mit seinen 282 Ortsansässigen. Der Traum vom großen Profifußball schien damit 2020 endgültig geplatzt, zumal der LFC nur in Liga zwei um Punkte kämpfte.

Türker liegt mit Loughgall auf Kurs Klassenerhalt

Türker jonglierte anschließend als Analyst mit Zahlen und hielt nach Feierabend im Training Bälle im Lakeview Park. Letzteres klappte übrigens auch in den Partien von Beginn an ziemlich gut. Der einst bei Hannover 96 und Arminia Bielefeld ausgebildete Schlussmann war sofort Leistungsträger und schaffte im dritten Jahr mit dem Dorfclub den Aufstieg. "Es ist aufregend, in Irlands Erster Liga zu spielen. Und ich glaube, dass ich es gut machen kann", sagte er, nachdem der Sprung ins Oberhaus gelungen war.

Türker sollte recht behalten. Trotz vergleichsweise geringer finanzieller Mittel liegt der Club klar auf Kurs Klassenerhalt. Das ist auch ein Verdienst seines deutschen Torhüters, der auch nach dem Aufstieg die unumstrittene Nummer eins und Leistungsträger ist. Ein Umstand, der Begehrlichkeiten bei anderen Clubs wecken könnte.

Darüber - und natürlich über die aktuellen Angebote im Gemischtwaren-Laden - unterhalten sich Loughgalls Einwohner, wenn sie zwischen dem Einkauf von Toilettenpapier, Limo und Joghurt über den ganzen Stolz des Dorfes sprechen: den LFC.

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