"1.000 Mal in der Laeiszhalle"
Donandt: Was das Repertoire betrifft, gab es nach dem Krieg vor allem in Sachen zeitgenössischer Musik einen enormen Nachholbedarf. Es muss ja eine Fülle neuer, vorher nicht gespielter Musik in die Konzertsäle gekommen sein!
Schönborn: Ja, neben den jüdischen Komponisten wie Mendelssohn und Mahler gab es auf einmal viel Hindemith, Strawinsky, Schostakowitsch, Prokofjew zu hören. Und Schmidt- Isserstedt war da sehr experimentierfreudig, muss ich sagen. Das Philharmonische Staatsorchester unter Eugen Jochum war eher konventioneller.
Heile: Welche Konzerte mit dem NDR Sinfonieorchester sind Ihnen denn in besonderer Erinnerung geblieben?
Schönborn: Mit Schmidt-Isserstedt zum Beispiel Sibelius' Zweite, die hat er sehr schön und schon sehr früh gemacht. Von Bruckner die Dritte, Schumanns Vierte, Brahms natürlich – das fällt mir hier spontan ein. Nach der Ära Schmidt-Isserstedt erinnere ich mich an ein sehr schönes Konzert im Lübecker Dom: Ich fuhr damals mit der Bahn nach Neustadt und bin dann nach Lübeck zu Fuß gelaufen. Dort machte Günter Wand eine Bruckner-Sinfonie, ich glaube die Fünfte. Auch die Neunte Bruckner unter Christoph Eschenbach, unmittelbar nach dem Tode von Wand, ist mir noch in starker Erinnerung geblieben.
Günter Wand war ja ansonsten – wie Carlos Kleiber auch – in den letzten Jahren leider etwas begrenzt in seinem Repertoire. Wenn er mal "Bilder einer Ausstellung" dirigierte, war das schon eine Sensation. Aber er hat mal eine sehr interessante Kombination gemacht, nämlich zwei Beethoven-Ouvertüren direkt hintereinander weg – das war ein toller Eindruck! Insgesamt war Günter Wand zu bescheiden, als dass er je in die Reihe der ganz großen Namen aufgerückt wäre. Für mich ist er aber ein ganz Großer.
Heile: Wie würden Sie generell die Entwicklung des NDR Sinfonieorchesters über all die Jahre hinweg beurteilen?
Schönborn: Es scheint mir offensichtlich, dass zum Beispiel durch Günter Wand und Christoph Eschenbach das NDR Sinfonieorchester eindeutig an die Spitze in Hamburg gerückt ist. Auch zur Wahl Ihres neuen Chefdirigenten Thomas Hengelbrock kann man Sie ja nur beglückwünschen. Das war ein guter Griff!
Donandt: Uns interessiert angesichts Ihrer so unglaublich langen Laufbahn als Konzertgänger aber natürlich auch ganz abgesehen von unserem Orchester, welches für Sie Konzert-Höhepunkte waren und welche Künstler Sie besonders schätzten.
Schönborn: Mein großes Idol unter den Dirigenten war Furtwängler. Ich hörte ihn hier zuerst mit den Berliner Philharmonikern, dann aber auch zwei, drei Mal mit den Hamburger Philharmonikern und einmal mit dem NDR Sinfonieorchester. Wenn ich an Furtwängler nur denke, von ihm lese oder ein Bild sehe, denke ich sofort an Beethovens "Coriolan"-Ouvertüre – das ist schon ein Automatismus. Er hat hier auch seine eigene Zweite Sinfonie aufgeführt, die mir ausnehmend gut gefallen hat. Er ist für mich der Größte, das kann ich vorbehaltlos sagen.
Daneben sind natürlich auch Celibidache und Carlos Kleiber meine Favoriten. Ein anderer Höhepunkt war ein Abend mit Swjatoslaw Richter, der Schuberts B-Dur-Sonate spielte – zum Dahinschmelzen! Oder Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Swjatoslaw Richter, mit Liedern von Hugo Wolf – ein ganz ausgefallenes Erlebnis für mich. Über die Jahre habe ich mich auch sehr an Mahler gewöhnt. Die Neunte Sinfonie von Mahler, die Sie auch diese Saison wieder im Programm haben, möchte ich ganz besonders erwähnen, weil es die einzige Sinfonie ist, die ich unter Lenny Bernstein gehört habe – fantastisch!
Und bei einigen Werken empfinde ich die Musik so, als ob sie schon immer da gewesen und nicht einem menschlichen Hirn entsprungen wäre – etwa der Anfang von Bruckners Siebter, der Schluss der Ersten von Brahms oder der letzte Satz der "Schottischen" von Mendelssohn. Das ist wie eine 'Urmusik'.
- Teil 1: Konzertgänger der ersten Stunde: Hans-Herbert Schönborn
- Teil 2: "Eine Art Hungergefühl, sich innerlich wieder aufzubauen"
- Teil 3: "Schmidt-Isserstedt war sehr experimentierfreudig"